Der Tag Delphi
geheimnisvolle Macht oder sogar der Bundesgenosse hatte, er war allein, und er hatte nur ein Ziel:
Traggeo.
Johnny ging um eine Ecke und trat in ein Tuch aus Dunkelheit, das ihn zwang, sich den Weg zu ertasten. Die Gänge, durch die er sich bis hierher vorgearbeitet hatte, waren vom schwachen Licht einer indirekten Deckenbeleuchtung erhellt worden. Die Wände und Türen waren weiß, wie auch die Fußbodenfliesen. Obwohl er keine Gitter oder Schlösser sah, hatten Johnnys Vermutungen sich bestätigt: Bei diesem Ort handelte es sich um ein Gefängnis, dessen Zellen derzeit leer, aber darauf vorbereitet waren, jederzeit Insassen aufzunehmen.
Und doch, irgend etwas stimmte hier nicht. Wareagle hatte an genug Rettungsmissionen in Gefangenenlagern der Vietkong teilgenommen, um das Gefühl der Sinnlosigkeit zu kennen, das in ihnen herrschte. Er kannte die Hoffnungslosigkeit, die Verzweiflung, die für sie typisch war. Hier herrschte ein anderes, wenn auch genauso unheilvolles und bedrohliches Gefühl. Und hier war ein mächtiger Feind am Werk. Johnny konnte diesen Feind in den Mauern spüren, in dem fürchterlichen Zweck wahrnehmen, für den diese Anlage konstruiert worden war.
Der Komplex war Teil eines schrecklichen Plans. Die Geister flüsterten Johnny etwas zu, und er hörte auf sie. Plötzlich wußte er, wieso seine Suche nach Traggeo so wichtig gewesen war. Die Geister hatten ihn hierher geführt, um ihn auf einen viel größeren Feind aufmerksam zu machen, mit dem Traggeo sich zusammengetan hatte.
Wareagle verharrte so abrupt, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand gelaufen.
Traggeo war hier! Traggeo näherte sich ihm!
Seine Sinne schärften sich. Vor ihm sah er an der nächsten Biegung des Ganges Licht.
Wareagle zog sein Messer aus der Scheide.
Die schnelle Folge der Explosionen hatten Kristen zur Tür ihrer Zelle gelockt. Sie drückte ein Ohr dagegen, um mehr Hinweise darauf zu bekommen, was draußen vor sich ging, nahm jedoch nur das dumpfe Geräusch sich nähernder Schritte wahr. Kristen sprang zurück.
Das Ungeheuer kam, um sie zu töten.
Ihr wurde klar, was David gesehen hatte. Was er gewußt hatte, wußte nun auch sie. Und dieses Wissen durfte nicht mit ihr sterben.
Eine Waffe! Sie brauchte eine Waffe!
Ihr Blick fiel auf das Bettgestell. Wenn sie eine der Stahlstangen abreißen konnte, könnte sie sich wenigstens verteidigen. Kristen zerrte die Matratze herunter und kippte das Bett um. Es prallte schwer auf den Boden.
Das Bettgestell bestand aus stabilem Holz.
Draußen waren die Schritte verhallt.
Klick!
Die Tür war elektronisch geöffnet worden. Die Klinke wurde hinabgedrückt.
»Nein!«
Das Wort hatte als Schrei begonnen und endete als Krächzen. Die Tür wurde vollständig geöffnet.
Kristen drückte sich gegen die Wand und ließ den Mann, der die Zelle betrat, nicht aus den Augen. Aber es handelte sich nicht um das Ungeheuer in Menschengestalt. Vor ihr stand ein riesiger Indianer, der mit dem Kopf fast an den Türbalken stieß.
Kristen war nicht imstande, den Blick von den zwingenden Augen des Indianers abzuwenden.
»Sie haben ihn gesehen«, sagte der Mann ohne jede weitere Erklärung und sah wieder auf den Gang hinaus. »Wir müssen weg von hier. Schnell.«
Da Kristen wußte, daß sie keine andere Wahl hatte, trat sie durch die Zellentür zu ihm hinaus. Sie hatte sich gerade in Bewegung gesetzt, als am Kopf des Ganges, dreißig Meter von ihnen entfernt, eine Gestalt um die Ecke bog.
»Da ist …«
Kristen kam nicht mehr dazu, die Identifizierung des menschlichen Ungeheuers abzuschließen, das ihren Bruder getötet hatte, denn der Indianer packte sie und zerrte sie in die andere Richtung. Sie liefen einem Tuch aus Dunkelheit entgegen, und hinter ihnen hallte eine abgehackte Kugelsalve im Gang. Aus den Wänden wurden Splitter gegraben. Einige Kugeln jubelten mit metallischem Kreischen als Querschläger durch die Luft.
Kristen wurde von dem Indianer um die Ecke gerissen und in die wartende Dunkelheit geführt.
Traggeo hatte nicht gezögert. Noch während sein Gehirn versuchte, den unmöglichen Anblick direkt vor ihm zu verarbeiten, hatte er die Waffe gehoben und geschossen.
Johnny Wareagle!
Doch sein größter Feind, der Mann, dessen Skalp er unbedingt erbeuten wollte, hatte sich einen Sekundenbruchteil vorher bewegt. Die Geister, die sich schon so lange weigerten, Traggeo als wahres Blut zu akzeptieren, hatten Wareagle gerade noch rechtzeitig gewarnt. Doch dieselben Geister
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