Der Tag der Ameisen
Antennen-segmenten durcheinander auf sämtlichen Geruchswellenlängen eine Vielzahl von Informationen aus.
Ich habe vor, euch zu retten. Von jetzt an kümmere ich mich darum, euch zu ernähren. Ich will mit euch sprechen.
Die Gottgläubigen rühren sich nicht, als würden auch sie ein Wunder erwarten.
Doch es geschieht nichts. Seit mehreren Tagen sind die Götter verstummt, und sogar mit der Königin wollen sie nicht reden.
Chli-pu-ni erhöht die Duftkraft ihrer Botschaften. Nicht die geringste Regung bei Doktor Livingstone. Er regt sich nicht.
Plötzlich zuckt der Königin mit der Lebhaftigkeit und Leuchtkraft eines Blitzes ein Gedanke durch den Kopf.
Die Finger gibt es nicht. Die Finger hat es nie gegeben.
Eine riesige Irreführung, Gerüchte, Geschichten, falsche Informationen, die über die Pheromone mehrerer Königinnen-generationen und durch die Bewegungen kranker Ameisen weiterverbreitet wurden.
Nr. 103 hat gelogen. Mutter Belo-kiu-kiuni hat gelogen. Die Rebellinnen lügen. Die ganze Welt lügt.
Die Finger gibt es nicht und hat es nie gegeben. Hier hören ihre Gedanken auf. Ein Dutzend gottgläubige Mandibelklingen durchbohren ihre Brustwehr.
205. AUF DER SUCHE NACH NR. Der Stationsvorsteher hatte alle Lichter ausgeschaltet, wie Méliès es ihm befohlen hatte. Dann hatte er ihnen eine sehr starke Taschenlampe zur Verfügung gestellt, um damit den Bahnsteig zu beleuchten. Juliette Ramirez und Laetitia Wells hatten das Lockpheromon im ganzen Bahnhof versprüht. Jetzt konnten sie nur noch ungeduldig und mit Herzklopfen warten, daß Nr. 103 zu ihrem Scheinwerfer kam.
Nr. 103 nimmt harte Schatten wahr, die von einem weitaus stärkeren Licht geworfen werden als die ihr bekannten Neonröhren. Gemäß der Botschaft der »freundlichen« Finger läuft sie auf die helle Zone zu. Dort müssen sie sie erwarten.
Wenn sie wieder bei ihnen ist, kommt alles wieder in Ordnung.
Wie lang ihnen das Warten wurde! Jacques Méliès konnte nicht ruhig sitzen und ging im Gang auf und ab. Er zündete sich eine Zigarette an.
»Mach sie aus. Der Rauchgeruch könnte sie vertreiben. Sie hat Angst vor Feuer.«
Der Polizist trat seine Zigarette mit dem Absatz aus und lief weiter auf und ab.
»Hör doch auf, herumzulaufen. Du zertrittst sie noch, wenn sie von dort kommt.«
»Mach dir da mal keine Sorgen, eins tu ich seit Tagen ohne Unterbrechung: Ich paß auf, wo ich die Füße hinsetze.«
Nr. 103 sieht neue Platten auf sich zukommen. Dieses Pheromon ist eine Falle. Killerfinger haben die Botschaft ausgestreut, um sie zu töten. Sie flieht. Laetitia Wells entdeckte sie in dem Lichtkegel.
»Schaut! Eine einzelne Ameise. Das ist bestimmt Nr. 103.
Sie ist gekommen, und du hast ihr mit deinen Sohlen angst gemacht. Wenn sie wegläuft, verlieren wir sie wieder aus den Augen.«
Sie näherten sich mit kleinen Schritten, aber Nr. 103 floh.
»Sie erkennt uns nicht. Für sie sind alle Menschen Berge«, sagte Laetitia verzweifelt.
Sie hielten ihr Finger und Hände hin, aber Nr. 103 schlug Haken, wie sie es schon beim Picknick getan hatte. Sie flitzte auf den Schotter zu.
»Sie erkennt uns nicht. Sie erkennt unsere Hände nicht. Sie weicht unseren Fingern aus! Was sollen wir bloß tun?« rief Méliès aus. »Wenn sie vom Bahnsteig verschwindet, finden wir sie auf den Gleisen nie wieder!«
»Sie ist eine Ameise. Bei Ameisen läuft alles nur über Düfte.
Hast du einen Filzstift? Die Tinte riecht stark, zumindest stark genug, um sie aufzuhalten.«
Laetitia beeilte sich, vor Nr. 103 eine dicke Linie zu ziehen.
Sie läuft, sie rennt, doch plötzlich taucht vor ihr eine stark alkoholische Duftmauer auf. Nr. 103 bremst mit sämtlichen Beinen, läuft an dieser ekelerregenden Mauer entlang, als wäre sie eine unsichtbare, aber unüberwindliche Grenze, dann umgeht sie sie und läuft weiter.
»Sie läuft um den Filzstiftstrich herum!« Laetitia beeilte sich, ihr den Weg mit ihrem Stift zu versperren. Schnell zog sie drei Striche in Form eines dreieckigen Gefängnisses. Ich bin zwischen diesen Duftmauern gefangen, sagte sich Nr. 103. Was soll ich tun?
Sie rafft ihren ganzen Mut zusammen und springt über den Filzstiftstrich, als wäre er eine Glasmauer, und läuft atemberaubend schnell, ohne zu sehen, wohin.
Soviel Bravour und Kühnheit hatten die Menschen nicht erwartet. Sie schauten sich ungläubig an.
»Da ist sie«, rief Méliès und zeigte mit dem Finger.
»Wo denn?« fragte Laetitia.
»Achtung
Weitere Kostenlose Bücher