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Der Tag der Ameisen

Der Tag der Ameisen

Titel: Der Tag der Ameisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Werber
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…!«
    Laetitia Wells verlor das Gleichgewicht. Alles lief wie in Zeitlupe ab. Um sich wieder zu fangen, machte sie einen kleinen Schritt zur Seite. Ein reiner Reflex. Die Spitze ihres hochhackigen Schuhs hob sich und senkte sich dann wieder auf
    …
    »NNNEEEEIIIIIIIIIIIIINNN!« kreischte Juliette Ramirez.
    Mit ganzer Kraft stieß sie Laetitia weg, ehe ihr Fuß den Boden berührte.
    Zu spät.
     
    Nr. 103 hat keinen Ausweichreflex. Sie sieht einen Schatten, der über ihr niederkommt, und hat nur noch Zeit zu denken, daß ihr Leben hier endet. Reich war es, ihr Leben. Wie auf einem Fernsehbildschirm flitzen in ihren Gehirnen die Bilder vorbei. Der Krieg am Klatschmohnhügel, die Eidechsenjagd, der Blick auf das Ende der Welt, die Käferflüge, die Flötenakazie, der Spiegel bei den Schaben und so viele Schlachten, ehe sie die Fingerzivilisation entdeckte … den Fußball, Miß Universum … den Dokumentarbericht über die Ameisen.

206. ENZYKLOPÄDIE
     
    KUSS: Bisweilen werde ich gefragt, was die Menschen sich von den Ameisen abgeguckt haben. Meine Antwort: den Kuß auf den Mund. Lange Zeit glaubte man, die alten Römer hätten mehrere Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung den Kuß auf den Mund erfunden. Tatsächlich haben sie einfach die Insekten beobachtet. Sie haben begriffen, daß die Ameisen, wenn sie einander mit den Lippen berühren, etwas Großzügiges tun, das ihre Gesellschaft zusammenschweißt. Den ganzen Sinn dessen haben sie nie begriffen, aber sie haben sich gesagt, daß sie diese Berührung nachahmen mußten, um den gleichen Zusammenhalt wie die Ameisenhaufen zu erreichen. Sich auf den Mund zu küssen heißt, eine Trophallaxis nachmachen.
    Doch bei der echten Trophallaxis wird Nahrung weitergereicht, während beim menschlichen Kuß lediglich Speichel ohne Nährwert weitergegeben wird.
    Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Bd. 2

207. NR. 103 IM JENSEITS
     
    Fassungslos betrachteten sie den zermalmten Körper von Nr. 103.
    »Ist sie tot …?«
    Das Tierchen regte sich nicht mehr. Kein bißchen.
    »Sie ist tot!«
    Juliette Ramirez hämmerte mit der Faust gegen die Wand.
    »Alles vorbei. Wir können meinen Mann nicht mehr retten.
    Unsere ganze Mühe war umsonst.«
    »Es ist doch zu blöd! So nah am Ziel! Wir hätten’s beinah geschafft.«
    »Arme Nr. 103 … Dieses außergewöhnliche Leben, und dann ein einfacher Schuh mit …«
    »Ich bin schuld, ich bin schuld«, jammerte Laetitia immer wieder.
    Jacques Méliès war pragmatischer.
    »Was machen wir mit ihrer Leiche? Wir werden sie ja wohl nicht wegschmeißen!«
    »Wir müssen ihr ein kleines Grab errichten …«
    »Nr. 103 war keine x-beliebige Ameise. Sie war ein Odysseus oder ein Marco Polo aus einer niederen Raum-Zeit-Dimension. Eine Schlüsselfigur für ihre Zivilisation. Sie hat mehr als ein Grab verdient.«
    »An was hast du denn gedacht? Ein Denkmal?«
    »Ja.«
    »Aber im Moment weiß doch keiner außer uns, was sie geleistet hat. Niemand weiß, daß sie eine Brücke zwischen unseren Welten gebaut hat.«
    »Wir müssen es überall bekanntmachen, wir müssen die ganze Welt aufrütteln«, meinte Laetitia Wells. »Diese Geschichte ist einfach zu wichtig. Damit müssen wir noch weiter kommen.«
    »Wir werden nie wieder eine so begabte ›Botschafterin‹ wie Nr. 103 finden. Sie hat dafür die nötige Neugier und Offenheit mitgebracht. Das ist mir beim Gespräch mit den anderen Ameisen klargeworden. Sie war einmalig.«
    »Unter einer Milliarde Ameisen müßten wir doch eine genauso Begabte finden können.«
    Doch sie wußten, daß das unmöglich war. Sie fingen an, Nr. 103 ins Herz zu schließen, wie Nr. 103 sie ins Herz geschlossen hatte. Ganz einfach. Nur aus wohlverstandenem Interesse. Die Ameisen brauchen die Menschen, um Zeit zu gewinnen. Die Menschen brauchen die Ameisen, um Zeit zu gewinnen.
    Wie schade! Wie schade, so nah am Ziel zu scheitern. Sogar Jacques Méliès war mitgenommen. Er versetzte den Bänken Fußtritte.
    »Wirklich zu blöd!«
    Laetitia Wells machte sich Vorwürfe.
    »Ich hab sie nicht gesehen. Sie war so klein. Ich hab sie nicht gesehen!«
    Alle starrten sie den reglosen kleinen Körper an. Ein Objekt.
    Wenn man diese arme, verzerrte Hülle sah, wäre man nie auf die Idee gekommen, dies sei Nr. 103 gewesen, die Anführerin des ersten Kreuzzugs gegen die Finger.
    Sie versammelten sich um den Leichnam.
    Plötzlich riß Laetitia die Augen weit auf und schreckte hoch.
    »Sie hat sich bewegt!«
    Sie

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