Der Tag der Ameisen
musterten das reglose Insekt.
»Wunschdenken«, meinte Méliès.
»Nein, ich hab nicht geträumt. Ich schwöre euch, daß ich gesehen habe, wie sie eine Antenne bewegt hat. Kaum wahrnehmbar, aber ein bißchen.«
Sie sahen einander an, beobachteten das Insekt lange. In diesem Tier steckte nicht mehr das kleinste Fünkchen Leben.
Sie war in einer Art Schmerzkrampf erstarrt. Ihre Antennen waren aufgerichtet, ihre sechs Beine wie zu einer langen Reise angewinkelt.
»Ich … ich bin mir sicher, daß sie ein Bein bewegt hat!«
Jacques Méliès faßte Laetitia an der Schulter. Er begriff, daß sie vor Erschütterung sah, was sie sehen wollte.
»Tut mir leid. Bestimmt ein reiner Leichenreflex.«
Juliette Ramirez wollte Laetitia nicht im Zweifel lassen. Sie hob den kleinen Körper auf und hielt ihn sich ans Ohr. Sie legte ihn sogar in ihre Ohrmuschel.
»Glaubst du, du hörst ihr Herz schlagen?«
»Wer weiß? Ich hab ein gutes Gehör. Ich würde die geringste Bewegung spüren.« Laetitia Wells nahm den Leichnam der Heldin an sich und legte ihn auf eine Bank. Sie kniete sich hin und hielt vorsichtig einen Spiegel vor die Mandibeln der Ameise.
»Hoffst du, ihren Atem zu sehen?«
»Die Ameisen atmen doch, oder?«
»Ihr Atem ist zu leicht, als daß wir davon das mindeste sehen könnten.«
Stumm vor Zorn starrten sie das zertretene Tier an.
»Sie ist tot. Sie ist mausetot!«
»Nr. 103 war die einzige, die auf unseren Bund zwischen den Arten gehofft hat. Sie war sich klar, daß es dauern würde, aber sie hatte sich eine gegenseitige Durchdringung unserer beiden Zivilisationen vorgestellt. Sie hatte eine Bresche geschlagen, gemeinsame Nenner gefunden. Sie war schon dabei, ein bißchen zu … vermenschlichen. Sie hat unseren Humor und unsere Kunst zu schätzen gewußt. Alle diese nutzlosen Dinge, die sie gesagt hat … die dabei so faszinierend waren.«
»Wir werden uns eine andere heranziehen.«
Jacques Méliès drückte Laetitia fest an sich und tröstete sie.
»Wir nehmen uns eine andere und bringen auch ihr bei, was die Kunst und der Humor der … Finger sind!«
»Es gibt keine zweite wie sie. Es ist meine Schuld … meine Schuld«, wiederholte Laetitia Wells.
Alle hatten sie die Augen auf den Körper von Nr. 103 geheftet. Es folgte langes Schweigen.
»Wir werden ihr ein würdiges Begräbnis bereiten«, sagte Juliette Ramirez.
»Wir bestatten sie auf dem Friedhof von Montparnasse neben den größten Denkern des Jahrhunderts. Es wird ein ganz kleines Grab, und darauf schreiben wir: ›Sie war die allererste.‹
Und wir bleiben die einzigen, die den Sinn der Inschrift verstehen.«
»Wir stellen kein Kreuz auf.« »Und Blumen und Kränze gibt es auch nicht.«
»Nur einen kleinen Zweig im Zement. Denn sie hat sich den Ereignissen immer gestellt, auch wenn sie Angst hatte.«
»Und sie hatte immer Angst.«
»Wir versammeln uns jedes Jahr an ihrem Grab.«
»Ich persönlich komme nicht gern auf meine Mißerfolge zurück.«
Juliette Ramirez hauchte: »Es ist so schade.«
Mit der Spitze ihres Fingernagels tippte sie die Antennen von Nr. 103 an.
»Komm, wach jetzt auf! Du hast uns ganz schön drangekriegt. Wir haben dich für tot gehalten. Zeig uns jetzt, daß alles bloß ein Witz war. Du hast einen Witz gemacht, wie wir, die Menschen. Siehst du, du hast es geschafft, du hast den Ameisenhumor erfunden.«
Sie trägt den Leichnam unter die Halogentaschenlampe.
»Vielleicht mit ein bißchen Wärme …«
Alle betrachteten sie den Kadaver von Nr. 103. Méliès mußte einfach ein kleines Gebet murmeln: »Mein Gott, mach, daß sie
…«
Doch noch immer passierte nichts.
Laetitia Wells vergoß eine Träne. Sie floß ihr übers Nasenbein, um eine Backe herum, blieb einen Moment im Kinngrübchen hängen und fiel dann neben die Ameise.
Ein salziger Spritzer erwischte die Antenne von Nr. 103.
Da geschah etwas. Die Augen gingen weit auf, die Körper beugten sich nach vorn.
»Sie hat sich bewegt!«
Die Antenne wackelte abermals.
Laetitia holte aus ihrem Augenwinkel eine zweite Träne und feuchtete damit die Antenne an.
Wieder eine kaum wahrnehmbare Bewegung.
»Sie lebt. Sie lebt. Nr. 103 lebt!« Juliette Ramirez rieb sich mit einem skeptischen Finger über den Mund.
»Noch haben wir nicht ganz gewonnen.«
»Sie ist verdammt schwer verletzt, aber sie lebt.«
»Wir brauchen einen Tierarzt.«
»Einen Tierarzt für Ameisen gibt es nicht!« rief Jacques Méliès.
»Wer soll Nr. 103 nur retten? Ohne Hilfe stirbt
Weitere Kostenlose Bücher