Der Tag der Ameisen
durcheinander, das muß ich zugeben. Doch das Erstaunlichste daran ist ein sonderbares Phänomen, das mich beunruhigt hat. Wenn man einen von ihnen berührt, spüren alle die Geste, als würden sie zu einem einzigen Organismus gehören. Und das ist noch nicht alles!«
»Was denn noch?«
»Sie singen.«
»Sie singen?« entrüstete Méliès sich. »Das müssen Sie falsch verstanden haben. Vielleicht liegt es daran, daß sie sich jetzt nur schwer wieder an Worte gewöhnen oder …«
»Nein. Sie singen, das heißt sie stoßen verschiedene Laute aus und treffen sich dann auf dem gleichen Ton, den sie lange halten. Dieser eine Ton bringt das ganze Krankenhaus zum Schwingen und gibt ihnen anscheinend Kraft.«
»Sie sind verrückt geworden!« rief der Kommissar.
»Dieser Ton ist vielleicht ein Sammellaut wie die gregoria-nischen Gesänge«, warf Laetitia ein. »Mein Vater hat sich sehr dafür interessiert.«
»Ein Sammellaut für Menschen, wie der Geruch ein Sammelzeichen für einen Ameisenhaufen ist«, beendete Juliette Ramirez den Gedanken.
Kommissar Méliès wirkte besorgt.
»Sprechen Sie vor allem mit niemandem davon und stecken Sie mir diese schöne neue Welt bis auf weiteres in Quarantäne.«
216. TOTEMPFÄHLE
Ein Angler, der eines Tages durch den Wald von Fontainebleau spazierte, stieß auf ein verwirrendes Schauspiel. Auf einem Inselchen zwischen den beiden Armen eines Baches sah er kleine Statuetten aus Lehm. Sie waren vermutlich mit winzigen Werkzeugen bearbeitet worden, denn sie trugen zahlreiche mikroskopisch kleine Spatelspuren.
Diese Statuetten, die in die Hunderte gingen, sahen alle genau gleich aus. Man hätte sie fast für Minisalzfässer halten können.
Neben dem Angeln hatte der Spaziergänger eine zweite Leidenschaft: die Archäologie.
Diese in alle Richtungen aufgestellten Totemzeichen erinnerten ihn sofort an die Statuen auf den Osterinseln.
Vielleicht, dachte er, lebte auf den Osterinseln ein Liliputanervolk, das einst hier in diesem Wald gewohnt hatte?
Vielleicht hatte er es ja mit den letzten Spuren einer uralten Kultur zu tun, deren Mitglieder nicht größer als ein Kolibri waren? Mit Gnomen? Mit Heinzelmännchen?
Der Angler und Archäologe untersuchte die Insel nicht allzu genau. Sonst hätte er kleine Grüppchen aller Arten von Insekten bemerkt, die damit beschäftigt waren, sich mit den Fühlern zu berühren, um sich alle möglichen Geschichten zu erzählen. Und er hätte begriffen, wer die wirklichen Erbauer dieser Lehmstatuetten waren.
217. KREBS
Nr. 103 hatte ihr erstes Versprechen gehalten: Die Leute von unter der Stadt waren gerettet. Juliette Ramirez beschwor sie, nun auch ihr zweites zu halten: Das Geheimnis des Krebses zu offenbaren.
Die Ameise setzt sich wieder unter die Glocke namens »Stein der Weisen« und stößt eine lange Duftrede aus.
Biologisches Pheromon für die Finger
Speichlerin: Nr. 103
Thema: »Was ihr ›Krebs‹ nennt«
Wenn ihr Menschen es nicht schafft, den Krebs auszurotten, liegt das daran, daß eure Wissenschaft überholt ist. Beim Krebs macht euch eure Analysemethode blind. Ihr seht die Welt nur auf eine Weise: die eure. Denn ihr seid Gefangene eurer Vergangenheit. Durch Experimente ist es euch gelungen, bestimmte Krankheiten zu heilen. Ihr habt daraus geschlossen, daß man nur durchs Experimentieren mit allen Krankheiten fertig werden kann. Das habe ich bei euren Wissenschafts-sendungen im Fernsehen beobachtet. Um ein Phänomen zu begreifen, meßt ihr es, steckt es in eine Schublade, ordnet es ein und zerlegt es in immer kleinere Elemente. Ihr habt das Gefühl, daß ihr der Wahrheit um so näher kommt, je kleiner ihr es zerhackt.
Doch nicht dadurch, daß ihr eine Grille in Stücke schneidet, erfahrt ihr, warum sie zirpt. Nicht dadurch, daß ihr mit euren Lupen die Zellen einer Orchideenblüte untersucht, versteht ihr, warum diese Blume so schön ist.
Um die Elemente, die uns umgeben, zu begreifen, muß man sich an ihre Stelle versetzen, in ihre Gesamtheit. Und am besten, wenn sie noch leben. Wenn ihr die Grille verstehen wollt, versucht zehn Minuten lang nachzuempfinden, was eine Grille sehen und erleben kann.
Wenn ihr die Orchidee verstehen wollt, versucht euch als Blume zu fühlen. Versetzt euch lieber an die Stelle der anderen, als sie in Stücke zu zerlegen und sie von den Elfenbeintürmen eures Wissens herab zu beobachten.
Keine eurer großen Erfindungen wurde von konventionellen Gelehrten im weißen Kittel gemacht.
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