Der Tag der Ameisen
VERSTÄNDIGUNG: Die Finger verständigen sich untereinander, indem sie durch den Mund akustische Schwingungen ausstoßen. Diese werden von einer freien Membran aufgefangen, die sich an den seitlichen Öffnungen ihres Kopfes befindet. Diese Membran nimmt die Laute auf und wandelt sie in elektrische Impulse um. Sinn erhalten die Laute dann durch das Gehirn.
FORTPFLANZUNG: Die Fingerweibchen können sich das Geschlecht, die Kaste oder auch die Gestalt ihrer Brut nicht aussuchen. Jede Geburt ist eine Überraschung.
GERUCH: Die Finger riechen nach Kastanienöl.
ERNÄHRUNG: Manchmal essen die Finger nicht aus Hunger, sondern aus Langeweile.
GESCHLECHT:
Bei den Fingern gibt es keine
Geschlechtslosen. Es gibt nur Männchen und Weibchen. Sie haben auch keine Königin, die Eier legt.
HUMOR: Die Finger kennen ein Gefühl, das uns vollkommen fremd ist. Sie nennen es »Humor«. Ich begreife nicht, worum es sich dabei handelt. Es scheint aber interessant zu sein.
ANZAHL: Die Finger sind zahlreicher, als man normalerweise denkt. Sie haben weltweit etwa zehn Städte mit mindestens tausend Fingern gebaut. Meiner Schätzung nach muß es auf der Erde gut zehntausend Finger geben.
TEMPERATUR: Die Finger sind mit einer inneren Temperaturregulierung ausgestattet, durch die sie den Körper warm halten können, selbst wenn es in der Außenwelt kalt ist.
Durch dieses System können sie auch nachts und im Winter aktiv bleiben.
AUGEN: Die Finger können ihre Augen unabhängig vom Rest des Schädels bewegen.
GANG: Die Finger gehen auf zwei Beinen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Diese in ihrer physiologischen Entwicklung noch relativ neue Stellung beherrschen sie noch nicht ganz.
KÜHE: Die Finger melken Kühe (dicke Tiere von ihrer Größe), wie wir unsere Läuse melken.
215. WIEDERGEBURT
Sie beschlossen, hinauszugehen. Sie waren sehr würdevoll. Sie waren weder am Sterben noch krank. Sie waren lediglich geschwächt. Sehr geschwächt.
»Sie könnten uns wenigstens danken«, murrte Cahuzacq in seinen Bart.
Sein Kollege Alain Bilsheim hörte ihn: »Noch vor einem Jahr hätten wir euch die Füße geküßt. Jetzt ist es entweder zu früh oder zu spät.«
»Aber wir haben euch schließlich gerettet!«
»Vor was denn?«
Cahuzacq brauste auf. »In meinem ganzen Leben habe ich keinen derartigen Undank erlebt! Ihr könnt es einem wirklich vermiesen, seinen Nächsten zu helfen …«
Er spuckte auf den Boden des unterirdischen Tempels.
Nacheinander kletterten die Gefangenen über die Strickleiter ins Freie. Die Sonne blendete sie. Sie verlangten nach Binden, mit denen sie sich die Augen schützen konnten. Sie setzten sich direkt auf den Boden.
»Erzählt!« rief Laetitia aus. »Rede mit mir, Jonathan! Ich bin deine Cousine Laetitia Wells, die Tochter von Edmond. Sag mir, wie ihr es da unten so lange ausgehalten habt.« Jonathan fungierte als Gruppensprecher seiner Gemeinschaft:
»Wir haben einfach den Entschluß gefaßt zu leben, und zwar gemeinsam zu leben. Das ist alles. Wir reden lieber nicht soviel. Entschuldige bitte.«
Die alte Augusta Wells setzte sich auf einen Stein. Sie machte den Polizisten ablehnende Zeichen.
»Kein Wasser, kein Essen. Geben Sie uns bloß Decken, denn hier draußen ist uns kalt, und«, fügte sie kichernd hinzu, »wir haben kaum mehr Fett, das uns schützt.«
Laetitia Wells, Jacques Méliès und Juliette Ramirez hatten erwartet, Todkranken zu Hilfe zu eilen. Nun wußten sie nicht mehr so recht, wie sie sich gegenüber diesen seelenruhigen Skeletten verhalten sollten, die sich ihnen gegenüber so hochmütig benahmen.
Sie packten sie in ihre Autos, fuhren sie zu einer vollständigen Untersuchung ins Krankenhaus und stellten fest, daß ihr Gesundheitszustand besser war, als sie befürchtet hatten. Alle wiesen natürlich zahlreiche Mangelerscheinungen an Vitaminen und Proteinen auf, aber sie hatten weder innere oder äußere Verletzungen noch waren ihre Zellen verkümmert.
Ein Gedanke ging Juliette Ramirez wie eine telepathische Botschaft durch den Kopf:
Und sie tauchten aus den Eingeweiden der sie nährenden Erde auf wie seltsame Säuglinge, wie die ersten Vertreter einer neuen Menschheit.
Ein paar Stunden später unterhielt Laetitia Wells sich mit dem Psychotherapeuten, der die Befreiten untersucht hatte.
»Ich weiß nicht, was los ist«, sagte er. »Sie sprechen fast überhaupt nicht. Sie lächeln mich an, als würden sie mich alle für blöd halten, und das bringt einen ziemlich
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