Der Tag der Ameisen
Kommissar die Fenster. Ihre raffinierten Riegel ermöglichten es keinesfalls, sie von außen zu schließen, und sei es durch Zufall.
Er machte sich daran, die kaum tapezierten Wände nach einem Geheimgang abzuklopfen. Er hob die Bilder an, um zu sehen, ob sie einen Tresor verbargen. In dem Zimmer befanden sich zahlreiche Wertgegenstände: ein goldener Kerzenständer, eine silberne Statuette, eine HiFi-Kompaktanlage … Jeder Einbrecher hätte sie mitgehen lassen.
Auf einem Stuhl lagen Kleidungsstücke. Routiniert tastete er sie ab. Bei der Berührung fiel ihm etwas auf. Im Stoff der Weste befand sich ein winzig kleines Loch. Wie ein Mottenfraßloch, jedoch vollkommen quadratisch. Er legte die Weste zurück und dachte nicht weiter darüber nach. Dann zog er eines seiner unvermeidlichen Kaugummipäckchen aus der Tasche und ließ dabei den Artikel aus dem Sonntagsecho zu Boden fallen, den er sorgfältig ausgeschnitten hatte.
Nachdenklich las er den Artikel von Laetitia Wells wieder.
Sie sprach von einer Fratze des Entsetzens. Das stimmte.
Diese Menschen schienen aus schierer Angst gestorben zu sein.
Aber was könnte einen wohl zu Tode erschrecken?
Er tauchte in seine eigenen Erinnerungen hinab. Als Kind hatte er einmal einen hartnäckigen Schluckauf. Seine Mutter befreite ihn davon, indem sie sich eine Wolfsmaske anlegte und ihn damit erschreckte. Er stieß einen Schrei aus, und eine Sekunde lang schien sein Herz stehenzubleiben. Sofort nahm seine Mutter die Maske ab und übersäte ihn mit Küssen.
Vorbei war’s mit dem Schluckauf.
Alles in allem war Jacques Méliès in beständiger Angst aufgewachsen. Die weniger schlimmen Ängste: Die Angst, krank zu werden, die Angst, mit dem Auto zu verunglücken, die Angst vor dem Herrn, der einem Bonbons anbietet und einen entführt, die Angst vor der Polizei. Die drängenderen Ängste: Die Angst, sitzenzubleiben, die Angst, beim Verlassen des Gymnasiums erpreßt zu werden, die Angst vor Hunden.
Eine Menge weiterer Erinnerungen an Schrecknisse aus der Kindheit kamen ihm ins Bewußtsein.
Jacques Méliès erinnerte sich an die schlimmste aller Ängste.
Seine große Angst.
Als er noch ganz klein war, hatte er eines Nachts in seinem Bett etwas zappeln spüren. Dort, wo er sich am sichersten glaubte, hockte ein Ungeheuer! Einen Moment wagte er es nicht, die Füße unter die Bettdecke zu stecken, dann nahm er sich zusammen und schob sich nach und nach darunter.
Aber plötzlich nahmen seine Zehen einen warmen Atem wahr. Igitt. Ja, er war sich sicher! In seinem Bett steckte ein widerwärtiges Ungeheuer und wartete nur darauf, daß seine Füße näher kamen, um sie zu verschlingen. Glücklicherweise reichte er nicht ganz bis nach unten. Er war nicht groß genug, aber er wuchs jeden Tag, und seine Füße näherten sich der Falte der Bettdecke, wo sich der Zehenfresser versteckt hielt.
Der kleine Méliès hatte mehrere Nächte lang auf dem Boden geschlafen oder auf der Decke. Davon bekam er Krämpfe, das war keine Lösung. Er hatte sich also durchgerungen, unter der Bettdecke zu schlafen, verlangte aber von seinem Körper, von allen seinen Muskeln, von allen seinen Knochen, nicht zu sehr zu wachsen, damit er niemals bis ganz nach unten reichte.
Vielleicht war er deshalb nicht so groß wie seine Eltern. Jede Nacht war eine Prüfung gewesen. Er hatte jedoch einen Trick herausbekommen. Er drückte seinen Plüschteddy fest in seine Arme. Mit ihm fühlte er sich bereit, dem unten in seinem Bett hockenden Ungeheuer zu trotzen. Und dann versteckte er sich unter der Decke und ließ nichts herausschauen, keinen Arm, nicht das kleinste Härchen oder Stückchen Ohr. Denn ihm schien klar zu sein, daß das Ungeheuer in der Nacht versuchen würde, um das Bett herumzugehen und ihn von der anderen Seite am Kopf zu packen.
Morgens fand seine Mutter eine Kugel aus Laken und Decken, in der ihr Sohn und sein Teddy begraben waren. Sie hatte nie den Versuch unternommen, dieses seltsame Betragen zu begreifen. Und Jacques hatte sich auch nicht die Mühe gemacht zu erzählen, wie er zusammen mit seinem Teddy die ganze Nacht einem Ungeheuer Widerstand geleistet hatte.
Weder er noch das Ungeheuer hatten den Kampf jemals gewonnen. Und geblieben war ihm lediglich die Angst. Die Angst, größer zu werden und etwas Entsetzlichem gegenüber-zustehen, das er nicht einmal identifiziert hatte. Etwas mit roten Augen, aufgeworfenen Lefzen und einem Mordshunger.
Der Kommissar kam wieder zu sich, packte seine
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