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Der Tag der Ameisen

Der Tag der Ameisen

Titel: Der Tag der Ameisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Werber
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Leuchtlupe und untersuchte den Schauplatz des Verbrechens ernsthafter als beim ersten Mal.
    Oben, unten, links, rechts.
    Nicht die geringste Spur dreckiger Fußabdrücke auf dem Teppichboden, nicht ein fremdes Haar, kein Fingerabdruck auf den Fensterscheiben. Auch keine fremden Fingerabdrücke auf den Gläsern. Er ging in die Küche. Er erleuchtete sie mit dem schmalen Strahl seiner Taschenlampe.
    Er beschnupperte und kostete die Gerichte, die herum-standen. Emile war so geistesgegenwärtig gewesen, sogar die Nahrungsmittel zu überziehen. Der gute Emile! Jacques Méliès schnupperte an der Wasserkaraffe. Kein Giftgeruch. Die Fruchtsäfte und das Soda wirkten gleichermaßen harmlos.
    Die Brüder Salta trugen die Fratze des Entsetzens auf dem Gesicht. Sicherlich eine Angst, die derjenigen der beiden Frauen beim Doppelmord in der Rue Morgue glich, als sie einen ungeschickten Affen durch das Fenster ihres Salons eindringen sahen. Er dachte an diesen Fall zurück. Sicherlich hatte der Orang-Utan selbst große Angst gehabt, denn er tötete die beiden Frauen ja, um ihrem Schreien ein Ende zu machen.
    Er hatte Angst vor ihrem Gebrüll gehabt.
    Noch ein Drama aus mangelnder Verständigungsfähigkeit.
    Man hat Angst vor dem, was man nicht versteht.
    Während er dies dachte, bemerkte er, daß sich etwas hinter dem Vorhang bewegte, und sein Herz wurde eiskalt. Der Mörder war zurückgekommen! Der Kommissar ließ seine Leuchtlupe fallen, sie verlöschte. Jetzt blieben nur noch die Neonlichter der Straße, die abwechselnd angingen, um nacheinander das Wort »Go-Go-Bar« zu buchstabieren.
    Jacques Méliès wollte sich verstecken, sich nicht mehr rühren, sich vergraben. Er nahm seinen Mut in beide Hände, hob seine Leuchtlupe auf, schob den verdächtigen Vorhang zurück. Da war nichts. Oder vielleicht war es der unsichtbare Mann.
    »Ist da jemand?«
    Nicht das geringste Geräusch. Bestimmt ein Luftzug.
    Er konnte nicht länger dableiben, er beschloß, die Nachbarn aufzusuchen.
    »Guten Tag, entschuldigen Sie, Polizei.«
    Ein eleganter Herr stand vor ihm.
    »Polizei. Ich habe Ihnen nur zwei oder drei Fragen an der Tür zu stellen.«
    Jacques Méliès zückte ein Notizbuch.
    »Waren sie am Abend des Verbrechens da?«
    »Ja.« »Haben Sie etwas gehört?«
    »Keinen Knall, aber sie haben plötzlich losgebrüllt.«
    »Gebrüllt?«
    »Ja, sehr laut gebrüllt. Diese Schreie waren entsetzlich. Das hat eine halbe Minute gedauert, und dann kam nichts mehr.«
    »Sind die Schreie gleichzeitig erfolgt oder nacheinander?«
    »Eher gleichzeitig. Das war wirklich ein unmenschliches Gekreisch. Sie haben bestimmt sehr gelitten. Es war, als würden sie alle drei gleichzeitig umgebracht. Was für eine Geschichte! Ich kann Ihnen sagen, seitdem ich diese Leute schreien hörte, habe ich Probleme mit dem Schlafen.
    Außerdem beabsichtigte ich, hier auszuziehen.«
    »Was meinen Sie, was es gewesen sein könnte?«
    »Ihre Kollegen waren bereits da. Anscheinend hat ein As von der Polizei … Selbstmord diagnostiziert. Ich glaube ja nicht so recht daran. Sie waren etwas Schrecklichem begegnet, aber was, das weiß ich nicht. Jedenfalls hat es keinen Lärm gemacht.«
    »Danke.«
    Eine fixe Idee nistete sich in seinem Kopf ein.
    (Ein wildgewordener, lautloser Wolf, der keine Spuren hinterläßt, hat diese Morde begangen.)
    Aber er wußte, daß es das keinesfalls war. Und wenn es das nicht war, was hatte dann größeren Schaden angerichtet als ein Orang-Utan, der mit einer Rasierklinge bewaffnet auf den Dächern auftauchte? Ein Mensch, ein genialer und wahnsinniger Mensch, der das Rezept für das perfekte Verbrechen entdeckt hatte.
     

16. ENZYKLOPÄDIE
     
    WAHNSINN: Alle werden wir tagtäglich ein wenig wahnsinnig und jeder auf eine andere Art. Deshalb verstehen wir einander so schlecht. Ich selbst fühle mich von Paranoïa und Schizophrenie befangen. Außerdem bin ich überempfindlich, was meine Wirklichkeitswahrnehmung verzerrt. Das weiß ich.
    Daher versuche ich, anstatt diesen Wahnsinn nur zu ertragen, ihn vielmehr als Motor für alle meine Vorhaben zu benutzen.
    Doch je mehr Erfolg ich damit habe, desto wahnsinniger werde ich. Und je wahnsinniger ich werde, desto eher erreiche ich die Ziele, die ich mir setze. Der Wahnsinn ist ein in jedem Schädel wohnender, wutentbrannter Löwe. Man darf ihn auf keinen Fall erlegen. Es reicht, ihn zu erkennen und zu zähmen. Dieser abgerichtete Löwe wird einen dann viel weiter bringen als jeder Lehrer, jede Schule,

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