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Der Tag der Ameisen

Der Tag der Ameisen

Titel: Der Tag der Ameisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Werber
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Blatt.
    Manche nannten sie »Wächter des Endes der Welt«,
    »unendliche Tiere«, »harte Schatten«, »Holzbrecher«,
    »Todesstinker« …
    Doch seit kurzem hatten sich alle Ameisen der Gegend darauf geeinigt, dem verwirrenden Phänomen ein und denselben Namen zu geben:
    Die Finger!
    Die Finger: Diese Dinger, die von nirgendwoher auftauchen und Tod säen. Die Finger: Diese Tiere, die unter ihren Schritten alles zermalmen. Die Finger: Diese Klumpen, die die kleinen Städte zermatschen und zerstampfen. Die Finger: Diese Schatten, die den Wald mit Dingen verschmutzen, die jeden vergiften, der davon kostet. Wenn sie bloß daran denkt, fährt Nr. 103 683 schon vor Ekel zusammen.
    Sie ist zwischen zwei Gefühlen hin-und hergerissen: der –
    ihrer Art fremden – Angst und einem anderen, das ihr hingegen in höchstem Maße eigen ist – der Neugier!
    Seit hundert Millionen von Jahren laufen die Ameisen dem ewigen Fortschritt nach. Die von der Königin Chli-pu-ni ausgerufene Evolutionäre Bewegung ist lediglich eine unter vielen Ausdrucksformen dieses typisch ameisenhaften Bedürfnisses nach dem immer Weiteren, Höheren, Stärkeren.
    Nr. 103 683 entgeht dem nicht. Ihre Neugier jagt ihre Angst.
    Schließlich ist ein ausgebluteter Schädel, der von Rebellinnen und einem Kreuzzug gegen die Finger spricht, nichts Alltägliches! Sie reinigt ihre Antennen, ein Zeichen für das Bedürfnis nach Orientierung.
    Sie richtet sich zu einem unwahrscheinlichen Himmel auf.
    Die Luft ist schwül, als würde irgendwo ein feindliches Wesen auf der Lauer liegen, bereit, aufzutauchen, um die Stadt anzugreifen. Die Zweige in der Umgebung werden von einer plötzlichen Brise geschüttelt. Die Bäume scheinen ihr zu sagen: Nimm dich in acht!, aber die Bäume beachten sie gar nicht. Sie sind so groß, daß sie nicht auf die Dramen achten, die sich zwischen ihren Wurzeln abspielen. Nr. 103 683 mag die Bäume nicht besonders, die stets einfach alles tatenlos geschehen lassen. Als ob sie unbesiegbar wären! Es kommt indessen vor, daß Bäume zusammenkrachen, vom Sturm zerschlagen, vom Blitz eingeäschert oder einfach von Termiten untergraben. Dann ist es an den Ameisen, ihren Fall gleichgültig zu betrachten.
    Ein Sprichwort der Zwergameisen trifft es genau: Die Großen sind stets zerbrechlicher als die Kleinen. Sind die Finger womöglich bewegliche Bäume?
    Nr. 103 683 verliert keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie hat ihren Entschluß gefaßt: Sie will das Gerede des Schädels nachprüfen.
    Durch einen engen Durchgang in der Nähe der Deponie dringt sie in ihren Ameisenhaufen ein und stößt auf die Ringstraße. Von dort gehen breite Avenuen ab, die zur verbotenen Stadt führen. Doch die nimmt sie nicht. Sie wählt so abschüssige Wege, daß sie sich mit ihren Krallen festklammern muß. Sie läßt sich in einen steilen Gang gleiten, stößt auf ein Netz von Stollen, die trotz des üblichen Verkehrs nicht allzu verstopft sind.
    Mit dem Transport von Nahrungsmitteln und Zweigen beschäftigte Arbeiterinnen grüßen Nr. 103 683. Bei den Ameisen gibt es keinen persönlichen Ruhm, aber dennoch wissen hier viele, daß diese Soldatin dort drüben war, im Land der Finger. Sie hat das Ende der Welt gesehen, sie hat sich über den gefürchteten Rand des Planeten gebeugt.
    Nr. 103 683 richtet ihre Antenne auf und erkundigt sich nach dem Ort, wo sich die Käferställe befinden. Eine Arbeiterin erläutert ihr, daß sie im 20. UG, Richtung Südsüdwest, links hinter den Gärten mit den schwarzen Pilzen liegen.
    Sie macht sich auf den Weg.
    Nach der Feuersbrunst im vergangenen Jahr ist viel Arbeit geleistet worden. Das alte Bel-o-kan verfügte über fünfzig Ober-und fünfzig Untergeschosse. Nach Chli-pu-nis neuem Entwurf rühmt sich die Stadt heute, achtzig Obergeschosse zu besitzen. Wegen des Granitfelsens, der schon immer als Fundament diente, ist in der Tiefe nichts verändert worden.
    Auf ihrem Weg bewundert die Soldatin ihre unablässig verbesserte Metropole.
    75. OG: Hier befinden sich die wärmegeregelten Kinder-krippen mit dem vermodernden Humus, der Trockensaal für die Puppen mit dem feinen Sand, der die Feuchtigkeit aufnimmt. Dank eines Schlittensystems mit sanfter Hanglage lassen sich die Eier von nun an leichter zu den Stockwerken für die Intensivpflege hinabrollen. Dort werden sie ständig von Ammen mit schweren Hinterleibern eingespeichelt. Auf diese Weise werden sie durch die transparente Hülle des Kokons hindurch mit allen Proteinen und

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