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Der Tag der Ameisen

Der Tag der Ameisen

Titel: Der Tag der Ameisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Werber
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unserem Kinn vor dem Nahen des Rasierapparates? Schreckt unsere große Zehe davor zurück, daß wir sie benutzen, die Temperatur in einem vielleicht kochendheißen Bad zu testen?
    Sie haben keine Angst, weil sie nicht als unabhängige Einheiten existieren. Ebenso zieht unsere linke Hand, wenn sie die rechte zwickt, nicht deren Unmut auf sich, und wenn unsere rechte Hand mit mehr Ringen geschmückt ist als unsere linke, wird diese nicht neidisch werden. Sorgen ade, wenn man sich selbst vergißt, um nur noch ans Ganze des Gemeinschaftsorganismus zu denken. Das ist vielleicht eines der Geheimnisse des sozialen Erfolgs der Welt der Ameisen.
    Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Bd. 2

15. LAETITIA TRITT NOCH IMMER NICHT IN ERSCHEINUNG
    Als sein Zorn verraucht war, machte Jacques Méliès seine Aktentasche auf und zog die Akte Salta heraus. Er wollte sich noch einmal genau alle Details ansehen und vor allem die Fotos. Eine ganze Weile beugte er sich über die Großaufnahme von Sébastien Salta mit weitaufgerissenem Mund. Von seinen Lippen schien sich ein Schrei zu lösen. Ein Entsetzensschrei?
    Ein »Nein« angesichts des unausweichlichen Todes? Die Identität seines Mörders? Je länger er das Foto betrachtete, um so niedergeschlagener, beschämter fühlte er sich.
    Schließlich riß er sich los, sprang zornentbrannt auf und versetzte der Wand vor ihm einen Fausthieb.
    Die Journalistin vom Sonntagsecho hatte recht. Er hatte sich blamiert.
    Er hatte den Fall unterschätzt. Eine hervorragende Lektion in Sachen Demut. Es gibt keinen schlimmeren Fehler, als Situationen oder Menschen zu unterschätzen. Vielen Dank, Madame oder Mademoiselle Wells!
    Aber warum hatte er sich bei diesem Fall als so unfähig erwiesen? Aus Faulheit? Weil er die Gewohnheit angenommen hatte, immer Erfolg zu haben. Infolgedessen hatte er sich zu etwas hinreißen lassen, was kein Polizist, nicht einmal der grünste Neuling in dem Gewerbe, getan hätte: Er hatte eine Untersuchung verpfuscht. Und sein Ruf war so gut, daß niemand außer dieser Journalistin ihn im Verdacht hatte, auf dem Holzweg zu sein.
    Er mußte ganz von vorn anfangen. Eine schmerzliche, aber notwendige Infragestellung! Besser jedoch, heute zuzugeben, sich getäuscht zu haben, als auf seinem Irrtum beharren.
    Das Problem war, daß er es, falls es sich nicht um einen Selbstmord handelte, mit einer verdammt haarigen Angelegenheit zu tun hatte. Wie hatten Mörder in einen verschlossenen Raum eindringen und ihn verlassen können, ohne Spuren zu hinterlassen? Wie kann man jemanden töten, ohne ihm Wunden beizubringen oder eine Tatwaffe zu benutzen? Das Geheimnis übertraf sämtliche guten Krimis, die er bisher gelesen hatte.
    Er wurde von ganz ungewohnter Erregung gepackt.
    Und wenn er jetzt endlich auf das perfekte Verbrechen gestoßen wäre?
    Er dachte an den Fall des Doppelmords in der Rue Morgue, der in der Erzählung von Edgar Allan Poe so gut dargestellt ist.
    In dieser auf wahren Tatsachen beruhenden Geschichte werden eine Frau und ihre Tochter tot in ihrer verschlossenen Wohnung aufgefunden. Hermetisch verschlossen, und zwar von innen. Die Frau hat es mit der Rasierklinge erwischt, die Tochter ist erschlagen worden. Keine Spuren von Vergewal-tigung, aber von brutalen, tödlichen Schlägen. Am Ende der Untersuchung wird der Mörder gefaßt: Ein aus einem Zirkus entlaufener Orang-Utan war über die Dächer in die Wohnung eingedrungen. Bei seinem Auftauchen schrien die Opfer vor Schreck los. Ihr Gekreische trieb den Affen zum Wahnsinn, um sie zum Schweigen zu bringen, tötete er sie. – Er floh auf dem gleichen Weg, wie er gekommen war, stieß dabei mit dem Rücken gegen den Rahmen des Schiebefensters und brachte es damit zum Zufallen – so, als sei es die ganze Zeit von innen verschlossen gewesen.
    Beim Fall der Brüder Salta war die Lage ähnlich, nur daß niemand ein Fenster hatte schließen können, indem er mit dem Rücken dagegenrammte.
    Aber war das so sicher? Méliès machte sich sofort auf den Weg, um den Schauplatz zu inspizieren.
    Der Strom war abgeschaltet worden, aber er hatte seine Leuchtlupe mitgebracht. Er untersuchte das Zimmer, das von den blinkenden Neonlichtern der Straße erhellt wurde.
    Sébastien Salta und seine Brüder lagen noch immer da, eingewachst, erstarrt, als befänden sie sich gerade irgendeinem ekelhaften Schrecken aus der Hölle der Großstadt gegenüber.
    Da die verriegelte Tür nicht in Frage kam, überprüfte der

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