Der Tag der Ameisen
könnte sie aus ihrer »Krankheit der Seelenstimmungen« reißen und gleichzeitig ihre Neugier befriedigen.
Dreißig tapfere Rebellensoldatinnen versammeln sich, und nachdem sie sich am Honigtau gesättigt haben, um ihre Energien aufzutanken, machen sie sich auf den Weg zum Saal der Zisternenameisen. Nr. 103 683 befindet sich unter ihnen.
Wenn sie nur nicht auf einen der Wachtrupps stoßen.
20. FERNSEHEN
Sie beobachtete jeden, der herein und heraus ging.
Die Concierge saß getreulich auf ihrem Posten hinter ihrem angelehnten Fenster.
Kommissar Méliès ging zu ihr hin. »Sagen Sie, Madame, darf ich Ihnen eine Frage stellen?«
Sie dachte, es müsse sich um einen Tadel wegen der schmutzigen Fahrstuhlspiegel handeln. Trotzdem nickte sie.
»Was hat Ihnen im Leben am meisten angst gemacht?«
Komische Frage. Sie dachte lange nach, denn sie befürchtete, eine Dummheit zu sagen und ihren berühmten Mieter zu enttäuschen:
»Ich denke, die Ausländer. Ja, die Ausländer. Die sind doch überall. Sie nehmen den Leuten die Arbeit weg. Sie greifen sie nachts an den Straßenecken an. Die sind einfach nicht so wie wir! Man weiß nie, was sie im Schilde führen.«
Méliès nickte und dankte ihr. Er war bereits im Treppenhaus, als sie ihm noch ganz versonnen nachrief: »Gute Nacht, Herr Kommissar!«
In seiner Wohnung entledigte er sich seiner Schuhe und machte es sich vor dem Fernseher bequem. Es gab nichts Besseres als das Fernsehen, um die Maschinerie zum Halten zu bringen, die sich nach einem Tag voller Nachforschungen am Abend in seinem Kopf drehte. Wenn man schläft, träumt man; das ist bereits Arbeit. Das Fernsehen dagegen leert einem dem Verstand. Die Neuronen legen sich zur Ruhe, und alle Ampeln im Gehirn hören zu blinken auf. Welcher Genuß!
Er griff nach der Fernbedienung.
Kanal 1,675, amerikanischer Fernsehfilm: »Also Bill, du bist böse, wie, du hast dich für den Besten gehalten, und jetzt wird dir klar, daß du bloß ein armes Schwein bist, wie alle anderen auch …«
Er zappte:
Kanal 877: Werbung: »Mit Krak-Krak, ein für allemal Schluß mit Ihren …«
Er zappte wieder.
Ihm standen 1825 Sender zur Verfügung, aber nur Kanal 622
begeisterte ihn täglich um Punkt 20 Uhr mit seiner Starsendung: »Denkfalle«.
Vorspann. Fanfaren. Auftritt des Moderators. Beifall.
Der Mann strahlt:
»Welche Freude, Sie wiederzusehen, Sie alle, die Sie unserem Kanal 622 die Treue halten. Willkommen zur hundertvierzigsten Sendung von ›Denk-‹«
»›-falle‹!« schallt es im Chor.
Marie-Charlotte drückte sich gegen seine Knie und verlangte Streicheleinheiten. Er gab ihr ein wenig Thunfischpastete.
Thunfischpastete mochte Marie-Charlotte noch lieber als Streicheleinheiten.
»Für diejenigen, die unsere Sendung womöglich zum erstenmal entdecken, erinnere ich an die Regeln.«
Buhrufe im Saal gegen diese Langweiler.
»Danke. Also, das ist im Prinzip einfach. Wir stellen ein Rätsel. Der Kandidat oder die Kandidatin hat die Lösung zu finden. Das ist die ›Denk-‹«
»›-falle‹!« trompetet das Publikum.
Noch immer strahlend fährt der Moderator fort:
»Für jede richtige Antwort gibt es einen Scheck über zehntausend Francs sowie einen Joker, um einen Fehler auszugleichen und die Chance auf weitere zehntausend Francs zu wahren. Schon seit mehreren Monaten ist Madame, äh, Juliette … Ramirez unser Champion. Hoffen wir, daß sie auch heute nicht gestürzt wird. Stellen Sie sich nochmals vor, Madame … Ramirez. Was sind Sie von Beruf?«
»Briefträgerin.«
»Sie sind verheiratet?«
»Ja, und mein Man sitzt jetzt sicher zu Hause am Bildschirm.«
»Na dann, guten Abend, Monsieur Ramirez! Und haben Sie Kinder?«
»Nein.« »Was haben Sie für Hobbys?«
»Ach … Kreuzworträtsel … Kochen …«
Beifall.
»Mehr, noch mehr«, befiehlt der Moderator. »Madame Ramirez hat es verdient.«
Stärkerer Beifall.
»Und nun, Madame Ramirez, fühlen Sie sich bereit für ein neues Rätsel?«
»Ich bin bereit.«
»Dann öffne ich den Umschlag, in dem es steckt, und lese Ihnen unser Rätsel des Tages vor.«
Trommelwirbel.
»Das Rätsel lautet: Wie heißt die nächste Zeile in folgender Reihenfolge?«
Mit einem Filzstift schreibt er Ziffern an eine weiße Tafel.
1
11
21
1211
111221
312211
Nahaufnahme der Kandidatin, die ein zögerndes Gesicht aufsetzt: »Hm … Das ist nicht gerade einfach!«
»Lassen Sie sich Zeit, Madame Ramirez. Sie haben Zeit bis morgen. Doch um Ihnen zu helfen, hier der
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