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Der Tag der Ameisen

Der Tag der Ameisen

Titel: Der Tag der Ameisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Werber
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Neonlicht war eine doppelte Reihe von Leichen aufgereiht, jede mit einem Schildchen an der großen Zehe. Der Saal verströmte einen Duft von Äther und Ewigkeit.
    Leichenschauhaus Fontainebleau.
    »Hierher, Kommissar«, sagte der Gerichtsmediziner.
    Sie gingen zwischen den Leichen hindurch, von denen die einen mit einer Plastikhaube, die anderen mit einem weißen Laken bedeckt waren. Jedes Etikett trug einen Namen und Angaben über den Zeitpunkt und die Umstände des Todes des Betreffenden: 15. März, auf der Straße durch Messerstiche umgebracht; 3. April, von einem Bus überfahren; 5. Mai, Selbstmord durch Sturz aus dem Fenster …
    Vor drei großen Zehen blieben sie stehen. Deren Schildchen gaben an, daß sie zu Sébastien, Pierre und Antoine Salta gehörten. Méliès konnte vor Ungeduld nicht mehr an sich halten.
    »Haben Sie herausgefunden, woran sie gestorben sind?« »Mehr oder weniger … An einer starken Gefühlserregung.
    An einer sehr starken, würde ich sagen.«
    »Angst?«
    »Schon möglich. Oder Überraschung. Ungeheurer Streß jedenfalls. Sehen Sie sich die Ergebnisse auf diesem Blatt an: Alle drei haben einen zehnfach höheren Adrenalinspiegel als normal.«
    Méliès sagte sich, daß die Journalistin recht hatte.
    »Sie sind also aus Angst gestorben …«
    »Nicht unbedingt, denn der Gefühlsschock ist nicht der einzige Grund der Todesfälle hier. Sehen Sie.« Er legte eine Röntgenaufnahme auf einen Leuchttisch. »Das Röntgen hat ergeben, daß ihre Körper voller kleiner Geschwüre sind.«
    »Worauf könnten die zurückzuführen sein?«
    »Ein Gift. Ganz sicher ein Gift, aber ein neuartiges. Bei Zyanid ist zum Beispiel nur eine große Verletzung festzustellen. Hier hingegen sind es viele.«
    »Wie sieht also Ihre Diagnose aus, Doktor?«
    »Es mag Ihnen merkwürdig vorkommen. Ich würde sagen, sie haben zunächst einen Schreck erlitten, und dann sind die Blutungen im Magen und den Eingeweiden eingetreten, die allesamt tödlich waren.«
    Der Mann im weißen Kittel packte seine Unterlagen zusammen und streckte ihm die Hand hin.
    »Noch eine Frage, Doktor. Was macht Ihnen angst?«
    Der Arzt seufzte.
    »Ach, ich hab soviel erlebt. Jetzt berührt mich, glaube ich, nichts mehr so richtig.«
    Kommissar Méliès verabschiedete sich und verließ das Leichenschauhaus Kaugummi kauend und noch verwirrter, als er es betreten hatte. Er wußte, daß er nun eine harte Nuß zu knacken hatte.
     

26. ENZYKLOPÄDIE
     
    ERFOLG: Die Ameisen sind von allen Vertretern des Planeten Erde die erfolgreichsten. Sie bevölkern eine Rekordzahl ökologischer Nischen. Ameisen finden sich in den Wüstensteppen am Rand des Polarkreises ebenso wie in den Dschungeln am Äquator, in den europäischen Wäldern, den Bergen, den Schluchten, an den Stranden der Ozeane, an den Rändern der Vulkane und sogar im Inneren menschlicher Behausungen. Ein Beispiel extremer Anpassungsfähigkeit: Um die Hitze der Wüste Sahara auszuhalten, die bis zu 60°C
    steigen kann, hat eine Ameise, die Formica cataglyphis, einzigartige Überlebenstechniken entwickelt. Sie läuft auf zwei von sechs Beinen, um sich auf dem glühendheißen Boden nicht zu verbrennen. Sie atmet flach, um ihre Feuchtigkeit nicht zu verdunsten und auszutrocknen. Es gibt keinen Kilometer festen Bodens, der frei von Ameisen wäre. Die Ameise ist das Tier, das auf der Oberfläche des Globus am meisten Städte und Dörfer gebaut hat. Die Ameise hat es verstanden, sich allen ihren natürlichen Feinden und allen klimatischen Verhältnissen anzupassen: Regen, Hitze, Trockenheit, Kälte, Feuchtigkeit, Wind. Neuere Forschungen haben erwiesen, daß je ein Drittel der tierischen Biomasse und der Amazonaswälder aus Ameisen und Termiten besteht. Und das im Verhältnis von acht Ameisen auf eine Termite.
    Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Bd. 2
     

27. KÖNIGLICHE ENTDECKUNGEN
     
    Die plattköpfigen Pförtnerinnen treten zur Seite, um sie vorbeizulassen. Sie laufen jetzt Seite an Seite durch die Holzgänge der verbotenen Stadt: Nr. 103 683, die Soldatin, die vor über einem Jahr am Schlußangriff auf Bel-o-kan beteiligt war, und ihre Königin, die seither nie etwas von sich hat hören lassen. Hatte sie ihre alte Gefährtin vergessen?
    Sie betreten die königlichen Gemächer. Chli-pu-ni hat die Wohnstatt ihrer Mutter umgestaltet und sie mit einem schönen Samt aus der Innenseite von Kastanienrinden auskleiden lassen. In der Mitte des Saals liegt – welch

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