Der Tag der Ameisen
opiumartigen Beigeruch aus. Dann holte sie ein Notizbuch aus ihrer Tasche und fing an, ihn auszufragen: »Ich habe gehört. Sie haben endlich eine Autopsie angeordnet. Stimmt das?« Er bejahte.
»Was ist dabei herausgekommen?«
»Angst plus Gift. In gewisser Weise haben wir beide recht.
Ich persönlich glaube nicht, daß Autopsien ein ideales Mittel sind. Sie können uns nicht alles verraten.«
»Hat die Blutanalyse eine Spur von Gift ergeben?«
»Nein. Aber das heißt nichts. Es gibt Gifte, die sich nicht nachweisen lassen.«
»Haben Sie am Ort des Verbrechens Spuren gefunden?«
»Keine.«
»Einbruchspuren?«
»Nicht die geringste.«
»Eine Ahnung hinsichtlich des Motivs?« »Wie ich bereits in der Pressemeldung erklärt habe, hatte Sébastien Salta viel Geld beim Spielen verloren.«
»Was ist Ihre ganz persönliche Meinung zu der Sache?«
Er seufzte: »Ich habe keine mehr … Doch darf ich Ihnen meinerseits eine Frage stellen? Anscheinend haben Sie Erkundigungen bei Psychiatern eingezogen?«
In ihren lila Pupillen las er Überraschung.
»Bravo! Sie sind gut unterrichtet!«
»Das gehört zu meinem Beruf. Haben Sie herausbekommen, was drei Menschen so viel Angst einzujagen vermag, daß sie auf der Stelle daran sterben?«
Sie zögerte: »Ich bin Journalistin. Mein Beruf besteht darin, mir bei der Polizei Informationen zu besorgen, nicht, ihr welche zu liefern.«
»Na gut, sagen wir, es handelt sich um ein schlichtes Tauschgeschäft, aber Sie sind natürlich nicht dazu verpflichtet, darauf einzugehen.«
Sie löste ihre schlanken, in Seidenstrümpfe gehüllten Beine.
»Was macht Ihnen denn angst, Kommissar?« Sie starrte ihn von unten an, während sie sich vorbeugte, um ihre Asche in den Aschenbecher zu streifen. »Nein, antworten Sie mir nicht.
Das ist zu intim. Meine Frage war fast unanständig. Angst ist ein so komplexes Gefühl. Sie ist die erste Empfindung des Höhlenmenschen. Sie ist etwas sehr Altes und Mächtiges, die Angst. Sie wurzelt in unserer Phantasie, daher können wir sie nicht kontrollieren.«
Mit langen Zügen paffte sie an ihrer Zigarette und drückte sie dann aus. Danach hob sie den Kopf und lächelte ihn an:
»Kommissar, ich glaube, wir sehen uns einem Rätsel gegenüber, das uns richtig fordert. Ich habe diesen Artikel geschrieben, weil ich fürchtete, es würde uns Ihretwegen durch die Lappen gehen.« Sie schaltete das Tonband ab.
»Kommissar, Sie haben mir nichts gesagt, was ich nicht schon gewußt hätte. Aber ich werde Ihnen etwas verraten.« Und schon stand sie auf. »Dieser Fall Salta ist sehr viel interessanter, als Sie glauben. Da wird es sehr bald zu neuen Verwicklungen kommen.«
Er fuhr hoch: »Was wissen Sie davon?«
»Mein kleiner Finger …«, machte sie, verzog ihre bezaubernden Lippen zu einem geheimnisvollen Lächeln und kniff ihre lila Augen zusammen.
Dann verschwand sie mit der Leichtigkeit einer Katze.
29. DIE SUCHE NACH DEM FEUER
Nr. 103 683 war noch niemals in der Chemischen Bibliothek gewesen. Der Ort ist wirklich beeindruckend. So weit das Auge reicht, sind Eier voller lebendiger Flüssigkeiten aufgereiht.
Jedes enthält Zeugnisse, Beschreibungen, einzigartige Gedanken.
Während sie zwischen den Reihen durchgehen, erzählt Chli-pu-ni, sie habe, als sie die verbotene Stadt einnahm, entdeckt, daß ihre Mutter Belo-kiu-kiuni mit den Fingern im Untergrund in Verbindung stand. Sie habe geglaubt, sie würden eine eigenständige Zivilisation bilden. Sie habe sie gefüttert, und im Gegenzug hätten sie ihr sonderbare Dinge beigebracht. Das Rad zum Beispiel.
Für die Königin Belo-kiu-kiuni seien die Finger segensreiche Tiere gewesen. Wie sie sich irrte! Chli-pu-ni habe jetzt den Beweis dafür. Alle Belege stimmen überein: Die Finger setzten Bel-o-kan in Brand und töteten so Belo-kiu-kiuni, die einzige Königin, die sie habe verstehen wollen.
Die traurige Wahrheit sei, daß ihre Zivilisation auf dem Feuer beruhe. Darum habe Chli-pu-ni die Verbindung zu ihnen abgebrochen und sie nicht mehr füttern wollen. Darum habe sie den Tunnel durch den Granit versiegelt. Darum sei sie bestrebt, sie vom Antlitz der Erde auszulöschen.
Immer zahlreichere Expeditionsberichte unterstrichen die gleiche Information: Die Finger entzünden Feuer, sie spielen mit dem Feuer, sie stellen mit Hilfe des Feuers Gegenstände her. Die Ameisen dürften diesen Verrückten nicht erlauben, so weiterzumachen. Das würde geradewegs in die Apokalypse führen. Das Beispiel von
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