Der Tag der Ameisen
gräßlicher Anblick
– der ausgeweidete und durchscheinende Leichnam von Belo-kiu-kiuni, ihrer eigenen Mutter!
Das ist in den Annalen der Ameisen sicher das erste Mal, daß eine Königin dauernd neben dem konservierten Leichnam ihrer Gebärerin liegt. Diejenige, gegen die sie einst in den Krieg gezogen ist und die sie besiegt hat.
Chli-pu-ni und Nr. 103 683 stellen sich genau in die Mitte des vollkommen ovalen Raums. Endlich berühren sie gegenseitig ihre Antennen.
Unsere Begegnung ist kein Zufall , meint die Herrscherin. Sie habe ihre Elitesoldatin seit langem gesucht. Sie brauche sie. Sie wolle einen Kreuzzug gegen die Finger ausrufen, alle Nester zerstören, die sie jenseits des östlichen Endes der Welt gebaut haben. Nr. 103 683 sei am geeignetsten, die rote Armee gegen das Land der Finger zu führen.
Die Rebellinnen hatten die Wahrheit gesagt. Chli-pu-ni will tatsächlich einen großen Krieg gegen die Finger führen.
Nr. 103 683 zögert. Gewiß ist sie begierig darauf, wieder gen Osten zu ziehen. Aber jetzt gibt es auch diese in ihren Körper eingebrannte Angst, die jeden Augenblick wieder aufzubrechen droht. Die Angst vor den Fingern.
Während des ganzen Winterschlafs, der auf ihre Abenteuer folgte, hat sie ausschließlich von den Fingern geträumt, von rosigen Riesenkugeln, denen ganze Städte nichts als leichte Beute sind!
Häufig ist Nr. 103 683 wie gerädert aufgewacht, mit feuchten Antennen.
Was ist los? fragt die Königin.
Ich habe Angst vor den Fingern, die jenseits des Endes der Welt leben.
Was ist das: Angst?
Das ist der Wunsch, nicht in Situationen zu geraten, die man nicht meistern kann.
Da erzählt Chli-pu-ni ihr, wie sie beim Lesen der Pheromone ihrer Mutter eines entdeckt habe, das auch den Begriff »Angst«
enthalte. Dieses Pheromon erkläre, daß Individuen, wenn sie unfähig seien, einander zu verstehen, »Angst« voreinander hätten.
Und laut Belo-kiu-kiuni ließen sich viele für unmöglich gehaltene Dinge durchaus verwirklichen, sobald die Angst voreinander einmal überwunden sei.
Nr. 103 683 erkennt darin die Art Aphorismus, die der alten Königin teuer war. Mit einer leichten Bewegung der rechten Antenne fragt Chli-pu-ni, ob die Angst die Soldatin außerstande setze, den Kreuzzug anzuführen.
Nein. Die Neugier ist stärker als die Angst.
Chli-pu-ni ist beruhigt. Ohne die Erfahrung ihrer Gefährtin von früher hätte ihr Kreuzzug unter einem schlechten Vorzeichen begonnen.
Wie viele Soldatinnen wären deiner Meinung nach erforderlich, um alle Finger auf der Erde zu töten? Du willst doch, daß ich alle Finger auf der Erde töte?
Ja. Offensichtlich. Chli-pu-ni will es. Die Finger müssen ausgerottet, von der Welt ausgelöscht werden. Sie sind dumm, riesige Parasiten. Sie regt sich auf, beugt und streckt die Antennen. Sie pocht darauf: Die Finger seien eine Gefahr, nicht nur für die Ameisen, sondern für alle Tiere, alle Pflanzen, alle Mineralien. Sie wisse es, sie spüre es. Sie sei von der Rechtmäßigkeit ihrer Sache überzeugt. Nr. 103 683 wird ihr gehorchen. Sie überschlägt kurz die Zahlen. Um mit einem einzigen Finger fertig zu werden, braucht man mindestens fünf Millionen gut ausgebildete Soldatinnen. Und sie ist davon überzeugt, daß es auf der Erde mindestens, mindestens … vier Herden gibt, das heißt zwanzig Finger!
Hundert Millionen Soldatinnen dürften kaum reichen.
Nr. 103 683 sieht das riesige schwarze Band, wo nichts wächst. Und all die Kundschafterinnen, die in einem Durcheinander aus Erschütterungen, Rauch und Kohlenwasserstoff mit einem einzigen Schlag plattgedrückt wurden wie das allerfeinste Blatt.
Auch das gehört zum östlichen Ende der Welt.
Chli-pu-ni schweigt einen Moment. Sie macht einige Schritte in ihrer Geburtskammer, knabbert mit den Spitzen ihrer Kiefer Weizenhülsen. Als sie sich endlich mit gesenkten Antennen wieder an sie wendet, versichert sie, mit vielen Ameisen gesprochen zu haben, um sie von der Notwendigkeit dieses Kreuzzuges zu überzeugen. Sie verfüge über keine politische Macht. Sie sende Vorschläge aus. Die Gemeinschaft entscheide. Im übrigen teilten nicht alle ihre Schwestern und Töchter ihren Standpunkt. Sie fürchteten ein Wiederaufkommen der Kriege mit den Zwergameisen und den Termiten. Sie wollten nicht, daß durch den Kreuzzug die Föderation ohne Verteidigung bleibe.
Chli-pu-ni habe mit vielen aufgeschlossenen Bürgerinnen gesprochen. Sie hätten Überlegungen angestellt, die Königin auch. Gemeinsam
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