Der Tag der Messer: Roman (German Edition)
die nun, bei Tageslicht, fast ganz verlassen wirkte. Während die Sonne allmählich über die Mauerkrone stieg und immer mehr Winkel und Gassen der Finsternis entriss, zogen die letzten Gestalten sich nach und nach zurück. Selbst die Hauptstraßen lagen da wie ausgestorben, und nur wer unaufschiebbare Geschäfte hatte oder wer keinen Unterschlupf besaß, hielt sich noch hier auf.
Auch die Menschen fehlten. Früher waren sie um diese Stunde in die Oberstadt geströmt, um ihre Arbeit zu tun. Inzwischen wurden die Straßen kaum noch sauber gehalten. Die Menschen blieben fast alle in der Vorstadt.
Frafa strich umher, bog in Seitengassen, wo sie Schatten fand. Der Morgen nahm seinen Fortgang, das rote Licht wurde klarer. Die Albe stellte fest, dass ihre Schritte sie ganz unwillkürlich wieder zu Aldungans Turm geführt hatten. Es war das einzige Zuhause, das sie in den letzten vierzehn Jahren gekannt hatte.
Die schwere Pforte hing zertrümmert in den Angeln. Die Fensteröffnungen waren klaffende Löcher, von scharfen Scherbenzähnen umrahmt. An manchen Stellen war die Außenmauer rußig schwarz. Das Obergeschoss schien gänzlich abgebrannt zu sein, das Dach eingestürzt. Möbelreste lagen auf der Straße.
Aber alles blieb still. Die Goblins hatten sich wieder zurückgezogen.
Vorsichtig trat Frafa näher, sah sich um, dann trat sie ein. Die Luft im Turm roch bitter.
Sie ging durch die Eingangshalle, hielt inne. Balgir auf ihrer Schulter hob neugierig den Kopf, wirkte aber nicht beunruhigt. Frafa verließ sich auf ihr Taschentier und ging weiter. Bei jedem Schritt knirschte es unter ihren Füßen, Glas und Ton, Holz, Leder – die Goblins hatten ein grauenvolles Chaos hinterlassen. Vermutlich hatten sie alles Wertvolle mitgenommen, ehe sie zerschlugen, was übrig blieb. Frafa schlurfte über den Boden, damit sie sich nichts durch die dünnen Sohlen ihrer Hausschuhe trat.
Sie gelangte in den Flur und weiter in das Treppenhaus. Rauch hing im Halbdunkel des Turms. Frafa hielt den Blick gesenkt und vermied es, sich umzuschauen. Sie roch das Blut, und sie wollte keine Leichen sehen oder, schlimmer, die verstümmelten Überreste von Leichen, die die Goblins zurückgelassen haben mochten.
In ihrem Zimmer war das Bett zertrümmert, die Matratze zerfetzt. Ihre Truhe war aufgebrochen, und die Kleidungsstücke lagen als besudelte Fetzen auf dem Boden. Mit spitzen Fingern schob Frafa die umgestürzte Kommode zur Seite. Die Waschschüssel war nicht mehr da, der Spiegel lag zersprungen neben der Tür. Sie tastete sich rückwärts wieder aus dem Raum hinaus. Sie fühlte sich geschändet. Es war ihr unerträglich, noch länger hier zu verweilen.
Frafa ging schneller und huschte die Treppe empor. Bleidans Arbeitszimmer war ihr zu einem zweiten Rückzugsort geworden. Als sie ein Zischen im Dunkel hörte, hielt sie inne und streckte die Hand aus. Sie erspürte wilde Essenz, beruhigte sie und fing die Schlange ein, die sich in einem Winkel der Stiege verkrochen hatte. Behutsam trug sie das Tier zu Bleidans Zimmer. Sie war ganz in den Zauber vertieft, der die Schlange beruhigte, und trat unachtsam durch die Tür.
Sie schrak zurück. Eine Gestalt wühlte zwischen den zerschlagenen Käfigen und umgekippten Gläsern herum. Frafa wollte kehrtmachen, die Treppe hinabfliehen, doch dann dämmerte es ihr.
Sie wandte den Kopf. »Bleidan?«
Der Alb schaute sie an. Er sah sehr mitgenommen aus. Sein rundes Gesicht war so hager geworden, dass es beinahe an einen Elf erinnerte. Die einst grünbraune Haut wirkte grau. Falten zeigten sich auf seiner Stirn. Bleidans Finger, die um den angebrochenen Holzrahmen eines Käfigs geschlossen waren, sahen so dünn aus wie bei einem Skelett.
»Frafa«, sagte er. Seine Stimme klang matt. Er fuhr fort, mit fahrigen Bewegungen aufzuräumen. Stellte die Überreste seiner Tierkäfige wieder auf die eine Seite des Zimmers, die Trümmer seiner Sammlung auf die andere Seite. »Ich dachte, alle wären fort.«
»Das sind sie auch«, sagte Frafa. Sie trat einen Schritt auf Aldungans Meisterschüler zu, hielt inne, blickte ihn an. »Wer konnte, ist geflohen, als die Goblins kamen. Die anderen …« Sie verstummte.
Bleidan nickte und sah sich hilflos um.
»Wie bist du entkommen?«, fragte Frafa.
»Entkommen?«, fragte Bleidan zurück. Er klang ein wenig benommen. »Ach ja. Nein. Ich bin nicht entkommen. Man hat mich gehen lassen. Immerhin ist die Fei gestürzt. Damit war die Anklage gegen mich irgendwie
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