Der Tag der roten Nase
meinem Hinterteil, packten mich Erleichterung und Entsetzen zugleich. Einerseits war es schlicht und einfach angenehm, zu sitzen, andererseits hatte ich keine Ahnung, wie es jetzt weitergehen sollte. Ich hatte ja eigentlich absolut nicht an der Tür klingeln wollen, und jetzt saß ich in dieser Küche, mit meiner Nase und allem Drum und Dran, es war schwer zu begreifen, wie es dazu hatte kommen können.
Trotzdem blieb ich sitzen. Der Alte auf der anderen Seite des Tisches atmete schwer, aber ruhig, und ein bisschen so, als vegetierte er bloß. Und da er es tatsächlich nicht eilig zu haben schien, betrachtete ich wieder einmal eine weitere Küche in Kerava. Auch hier waren Uhren im Überfluss vorhanden, eine ganze Wand voll, Souvenirteller, auf denen Zeiger Scheiben schnitten. Es gab Städte und Länder, London, Paris, Madrid und Casablanca, Malta, Ägypten, Brasilien und etwas, das chinesisch aussah, dazu dann auch all die vergessenen, unter anderem Jugoslawien, die Tschechoslowakei, Bulgarien. Nach kurzem Überlegen wurde mir peinlich bewusst, ziemlich lange in dem Glauben gelebt zu haben, dass letztgenanntes Land schon irgendwann Anfang der Neunzigerjahre durch Umwälzung von der Landkarte verschwunden war.
Was sie gemeinsam hatten, die Uhren, war, dass sie alle unterschiedliche Zeiten anzeigten. Soweit ich es verstand, handelte es dabei ganz und gar nicht um Zeitunterschiede, sondernum den haltlosen Wankelmut auch der Sekunden- und Minutenzeiger.
Der Alte riss mich jedoch aus meinen Gedanken. »Ein nettes Mädchen biste schon«, formulierte er auf einmal mit deutlicher Stimme und lächelte mit dem rechten Mundwinkel, wobei er durch seine dicken Gläser ungefähr in meine Richtung spähte.
»Sie sind aber auch nett«, sagte ich; mehr konnte ich nicht, wagte ich nicht, ich fragte mich allmählich, was er sich so dachte, woher bei ihm der Wind wehte. Oder ging dieser Wind nur durch meinen Kopf? Womöglich hatten wir das Wetter, die Tagespolitik, die wichtigsten Serien und all das schon durchgekaut, und ich nahm bloß an, wir hätten die ganze Zeit still am Tisch gesessen?
»Ja, ja«, sagte der Mann. »Das kann gut sein.«
Ich wagte es nun, ihn etwas länger anzuschauen, weil ich wusste, er bemerkt es gar nicht. Seine im Vergleich zur übrigen verdorrten Erscheinung ziemlich dicken Schmatzlippen lächelten verstohlen. Das Gesicht war um den Mund herum jahresringartig gefältelt, als wäre mitten in die Gesichtspfütze hinein ein Stein geworfen worden. Über der Stirn spross gerade so viel schwarzes Angelschnurhaar, dass man mit Wasserkammtechnik ein paar dünne Streifen hinbekam, die über den lebergefleckten Kopf liefen. Dann, als ich längst in die Betrachtung seines verknitterten, bis oben zugeknöpften grün und schwarz karierten Hemdes versunken war, bemerkte ich eine Regung in der Mitte des linken Brillenglases.
Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass er mir zuzwinkerte.
»Ja, ich hätte da ein paar Fragen«, beeilte ich mich zu stammeln,streckte den Rücken durch und strich den Rocksaum glatt. Meine Wangen glühten.
»In einer Stunde regnet es«, hörte ich den Alten wie aus weiter Ferne sagen, er hatte offenbar bereits vergessen, wo er stehen geblieben war. »Das Licht ändert sich, daran merkt man es.«
»Genau«, entgegnete ich irgendwie schmallippig, es war schwer zu sagen, ob der Mann eher alt oder eher weise oder beides zugleich war. Da mir nichts anderes einfiel, suchte ich in meiner Tasche nach den Unterlagen. Ich kam aber nicht einmal dazu, das Formular für die Angaben zur Person hervorzuziehen, als Hätilä schon mit einer steinsockelartigen Stimme, der plötzlich alles Bröckelnde fehlte, fortfuhr: »Es ist heutzutage so still.«
Ich flüsterte, das wisse ich. Aus irgendeinem Grund hatte ich plötzlich das Gefühl, es zu wissen.
Der Hausherr richtete seine in die Ferne gerückten Augen aufs Fenster, vor dem der Wind einen grellgrünen Drachenfetzen flattern ließ, der am Ast einer Kiefer hängen geblieben war. »Man spürt alles Mögliche, wenn es so still ist«, sagte er und lächelte matt und wehmütig. Dann redete er weiter, man spüre den Regen, den Regen spüre man, und seine Stimme hatte einen Unterton, als würde er tief in seinem Inneren lächeln.
»Soll ich Kaffee kochen?«, fragte ich.
»Ja, Mensch«, antwortete Hätilä.
Und so kochte ich Kaffee. Gemächlich hantierte ich in der fremden Küche und nutzte die Gelegenheit, um mich umzusehen. Auf einmal störte mich
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