Der Tag der roten Nase
der Name Hätilä zu lesen war.
Schwer zu sagen, ob es an den Namen lag oder an was sonst, aber plötzlich hatte ich die Nase und alles andere völlig vergessen und klingelte.
Es ertönte ein weiches Bimbambom, als bimmelte eine Glocke unter einem dicken Berg von Decken. Die Briefklappe stand einen Spaltbreit offen, von dort strömte mir ein schwacher Fettgeruch entgegen. Hätilä hieß so viel wie »Hastiger«, und ich dachte kurz, da wohnt bestimmt jemand, der es immer eilig hat, was mich dann zwangsläufig zum Grinsen brachte, obwohl es ein blöder Witz war, mit Irja wäre es sicher leicht gewesen, albern-befreiend darüber zu lachen, aber in dem Treppenhaus und vor der fremden Tür wurde mir die Aussicht, allein vor mich hinzulachen, unheimlich, was mich allerdings erst recht zum Lachen reizte.
Zum Glück hatte ich noch keinen entsprechenden Anfall bekommen, als hinter der Tür zuerst ein luftiges Tappen erklang und dann ein langmütiges Stochern in den Schlössern. Schließlich ging die Tür schleppend langsam auf.
Der alte Mann wirkte alles andere als eilig und sah auch nicht im Entferntesten wie ein Hastiger aus. Er war kleiner als ich, gefangenenlagerhaft ausgemergelt und krumm wie eine runzlig getrocknete Chilischote. Sein wurmiger Faltenreichtum und die unglaublich langsam blinzelnden Lider erinnerten an E.T. Er trug eine viereckige Brille mit Bernsteingestell aus längst vergangenen Jahrzehnten, die eine weitere Variation der gründlichen Kastenförmigkeit zu sein schien, die dieses Haus verhext hatte; ins Gestell waren dicke Gläser gezwängt worden, durch die der abgenutzte Mann derart unmerklich linste, dass in seinem Blick kein Krümelchen Bosheit oder Berechnung zu erkennen war, ja nicht einmal etwa Abschätzendes. Wenn man so schlecht sah, musste man sich auf das Gute im Menschen verlassen, kam mir in den Sinn.
Am liebsten hätte ich ihn in den Arm genommen, aber ich war nicht fix genug.
»Kommen Sie rein«, sagte er mit raschelnder Stimme, die allerdings über einen außergewöhnlichen Resonanzraum verfügte. Dann öffnete er die Tür so weit, dass ein Mensch meiner Größe durchpasste.
»Danke, gern«, sagte ich. Den Wörtern haftete ein so dankbarer Ton an, als wäre ich meilenweit durch feindliche Wildnis gestapft und hätte schließlich eine Kate gefunden, in der man mich herzlich willkommen hieß, obwohl es weder Platz noch Vorräte gab. Ich kam mir plötzlich wie frisch aufgefädelt vor, weil ich keine Halbwahrheiten von mir gebenmusste, sondern einfach so mit einem Ruck hineingezerrt wurde. Obschon es bei dem durch und durch langsamen Opa mit dem ruckartigen Zerren nicht sonderlich weit her war.
Dennoch lotste er mich per Handzeichen und Ärmelzupfen ziemlich schnell durch den unauffällig kleinen Flur in die Küche. »Und?«, röchelte er und schlug die Hände so langsam zusammen, dass sie, als sie sich endlich trafen, eigentlich allem Ermessen nach teigartig miteinander hätten verschmelzen müssen. »Soll ich Ihnen alles zeigen?«
Ich räusperte mich und sagte: »Ähm.«
Der Alte legte den Kopf zwei Zentimeter zur Seite und fasste mich durch seine Brille hindurch ins Auge, sie sah aus, als wäre sie angefertigt worden, um die Sicht zu beeinträchtigen, als hätte sich jemand einen lustigen Streich erlaubt, das Ganze dann aber vergessen, worauf der arme alte Mann seit Jahrzehnten gegen die Wände stieß. »Ach ja«, sagte er und streckte im Schneckentempo die Hand aus. »Ich habe vergessen, mich vorzustellen.«
Seine Hand fühlte sich an wie eine Bonbontüte aus Leder. Vorsichtig schüttelte ich die losen Knochen eine Weile, stellte mich vor und erfuhr, dass der Mann mit Vornamen Ilmari hieß, und da er in keiner Weise zu verstehen schien, in welcher Angelegenheit ich unterwegs war, trug ich meine Litanei vor, die mir inzwischen schon keine Probleme mehr bereitete, und präzisierte, ich wäre außerordentlich dankbar, wenn er ein wenig Zeit aufbringen könnte, einen winzig kleinen Moment.
»Und ich dachte, Sie sind das Mädchen von der Sozialstation«, sagte er plötzlich verblüffend energisch, mit klassischer Opastimme. »Weil Sie genau so ein hübsches Fohlen sind wie die anderen.«
Dann schwieg er einen Moment, schaute mich an, ohne etwas zu sehen, und krächzte schließlich melancholisch: »Also die.«
Ich ließ mich auf keine Diskussion ein, sondern schlich mich weiter in die Wohnung hinein und setzte uns beide an den Tisch. Kaum spürte ich den geflochtenen Stuhl unter
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