Der Tag der zuckersueßen Rache
froh, dass wir zumindest geschafft haben, dass Du an der Ausstellung teilnehmen konntest – ich habe gehört, Du hast einen Preis gewonnen, und ich bin so stolz auf Dich, dass ich gar nicht mehr aufhören kann zu lächeln. O.k., ich werde Dir verraten, was mit Paul Wilson passiert ist: Am Abend vor Deiner Kunstausstellung entdeckte Cass einen Brief, den Paul unter ihrer Haustür durchgeschoben hatte. Darin schrieb er, Du hättest ihn angegriffen und er würde sich rächen, indem er am nächsten Morgen der Schulleitung davon erzählte. Offenbar glaubte er, dass Cass hinter Deinem Angriff steckte, und wollte sie wissen lassen, dass er trotzdem der Sieger bleiben würde. Deshalb dachte Cass sich einen Plan aus, damit er Dich erst nach der Ausstellung verpetzen konnte. Sie bat Em und mich vorbeizukommen und wir arbeiteten gemeinsam an den Einzelheiten. Und so lief es ab: Em rief frühmorgens bei Paul Wilson zu Hause an und erklärte ihm mit vornehmem Akzent, sie sei Castingagentin und besuche gelegentlich die Proben von Schultheatergruppen, um nach neuen Talenten Ausschau zu halten. (Ja, ich weiß. Sei still. Es war ziemlich gewagt, aber er glaubte jedes Wort.) »Neulich war ich bei einer Probe Ihres Stücks an der Brookfield High«, sagte Em, »und ich bin äußerst begeistert von Ihrer Arbeit, junger Mann.« Sie las von einem Skript ab, dass wir zusammen geschrieben hatten. Cass und ich konnten Pauls Stimme am anderen Ende der Leitung hören. Er bemühte sich, höflich zu klingen, und flötete: »Oh, wie freundlich von Ihnen«, mit so einem kleinen Kichern in der Stimme. Dann sagte Em: »Ich hatte eigentlich vor, Sie gelegentlich zu ei nem Fotoshooting in unsere Agentur einzuladen, aber ich habe hier einen kleinen Notfall und würde Sie gerne um Hilfe bitten. Eine hiesige Filmfirma dreht heute die letzten Szenen einer großen Fernsehproduktion. Sie hatten einen jungen Schauspieler für eine kleine Nebenrolle engagiert, aber wie das Leben so spielt, hat er sich eine Lebensmittelvergiftung zugezogen und fällt leider aus!« »Oh nein!«, sagte Paul. »Die Drehzeit ist schon lange überschritten«, fuhr Em fort, »und Heath und Naomi müssen morgen zurück nach L. A. fliegen – deshalb müssen die Aufnahmen heute abgeschlossen werden!« Ursprünglich wollte Cass Josh Hartnett und Reese Witherspoon nach L. A. zurückfliegen lassen, aber wir beschlossen, die Sache lieber ein bisschen zu »australisieren«, und nahmen Heath Ledger und Naomi Watts. »Oje!«, sagte Paul. Er klang wie der größte Streber auf Erden. »Deshalb haben die Produzenten bei mir angerufen. Während ich meine Kartei durchging, sah ich vor meinem inneren Auge ständig Ihr Gesicht und dachte, Sie wären eigentlich perfekt für diese Rolle.« Paul sagte: »Wirklich?« »Aber sicher. Ich habe Ihre Schulleiterin angerufen, Ihre Adresse erfahren und außerdem um die Erlaubnis gebeten, Sie heute ausnahmsweise von der Schule fernzuhalten.« Em verstummte und Cass flüsterte ihr rasch zu: »Sofern das kein Problem für Sie ist.« »Sofern das kein Problem für Sie ist«, fügte Em hinzu. Paul versuchte, möglichst professionell zu klingen, und sagte: »Das ist überhaupt kein Problem – außer« – eine leichte Panik kroch in seine Stimme – »außer, dass ich gestern eine Art ...Unfall hatte . . . und jetzt habe ich eine Prellung am Auge . . .« »Sie wissen offenbar nicht, zu welchen Zauberkünsten Masken bildner fähig sind?«, sagte Em ganz cool, was wirklich enorm gut improvisiert war. »Wir hätten Sie natürlich gerne so schnell wie möglich hier, damit Sie Ihren Text lernen und Ihre Kleider anprobieren können und geschminkt werden«, fuhr Em fort und kehrte damit wieder zu unserem Skript zurück. Und Paul sagte: »Kein Problem.« Hab ich Dir schon erzählt, dass meine Mum Teilhaberin an einem kleinen Produktionsstudio ist? Die Rezeptionistin, Mary-Ellen, lässt uns immer in der Garderobe herumlungern, wenn wir keine Lust haben, in die Schule zu gehen. Em gab Paul die Adresse des Studios. Und wir baten Mary-Ellen, nach unserem »Freund« Paul Wilson Ausschau zu halten und ihn in die Garderobe zu schicken, wenn er käme. Dort nahm ich ihn in Empfang. Ich tat so, als sei ich die Regiehospitantin, und überreichte ihm ein fünfseitiges Skript, das ich geschrieben hatte. Er verbrachte den ganzen Vormittag damit, seinen Text vor einem der Spiegel zu üben. Er sollte einen Jungen spielen, der mitten in einer Katastrophenszene zusammenbricht. Deshalb
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