Der Tag der zuckersueßen Rache
hatte er einen wirklich albernen Text und musste zum Beispiel in Tränen ausbrechen und sagen: »Mum? Hilfe, meine Socken rutschen!« Dann gab es noch eine Szene, in der er einen Niesanfall spielen muss. Ich tat so, als würde ich etwas vorbereiten, und ging ständig bei ihm ein und aus. Ich musste mich sehr bemühen, nicht laut zu lachen, als er immer wieder verschiedene Arten zu niesen ausprobierte. Dann bat ich Jerry, den Maskenbildner, zu ihm reinzugehen und ihn so übertrieben zu schminken wie nur möglich. Jerry hatte ja auch eine gute Ausrede dafür, wegen Pauls blauem Auge (das übrigens gar nicht so schlimm aussah – er ist echt ein Waschlappen, wenn er so was als »zusammengeschlagen werden« bezeichnet). Jedenfalls übertraf Jerry sich selbst: Paul sah aus wie
ein Vampir.
Anschließend schickten wir ihn mit einem Taxi in die Innenstadt
und wiesen ihn an, die Filmcrew am Martin Place zu treffen.
Nachdem wir Mary-Ellen noch eine Nachricht gegeben hatten,
die sie ihm ausrichten sollte, falls er anrief, lungerten wir in der
Empfangshalle herum und warteten.
Gegen halb fünf rief er schließlich an. Mary-Ellen wusste zwar
nicht, um was es ging, aber sie wusste genug, um den Lautsprecher einzuschalten, damit wir mithören konnten.
Er fragte, ob sie vielleicht eine Nachricht für ihn habe. Seine
Stimme klang ganz besorgt. Als dächte er, er sei zum falschen
Ort gefahren und hätte den ganzen Film versaut.
Mary-Ellen erwiderte ganz unschuldig. »Ah ja, hier ist eine Nachricht für Sie von Cassie Aganovic. Sie sagt, sie habe den Brief bekommen, den Sie ihr gestern vorbeibrachten, aber sie hätte keine Ahnung, wer Sie sind.«
Am anderen Ende der Leitung herrschte Totenstille.
»Hallo?«, fragte Mary-Ellen. »Hallo? Sind Sie noch da?«
»Von wem war diese Nachricht?«, fragte Paul.
»Von Cassie Aganovic.«
»Ist sie. . . arbeitet sie bei Ihnen?«
»Nein, tut sie nicht.«
»O.k., gut, aber was ist mit dem Film? Ich sollte doch Heath und
Naomi hier treffen und . . .«
»Heath und Naomi? Ich weiß wirklich nicht, wovon Sie da sprechen. Ich habe nur diese Nachricht für Sie. Soll ich sie Ihnen noch
mal vorlesen?«
»Nein – ich dachte – ich dachte nur . . .«
Dann konnte man praktisch hören, wie es in Paul Wilsons Kopf
schepperte, während ihm langsam klar wurde, was passiert war.
Sein Atem ging schwer und schnell und er versuchte, sich wieder
unter Kontrolle zu bekommen. Und dann sagte er leise: »Tut mir
leid, ich glaube, ich habe mich verwählt«, und legte auf.
Mary-Ellen legte den Hörer weg und schaute uns mit erhobenen
Augenbrauen an, als wolle sie sagen: War es das, was ihr wolltet? Dann vertiefte sie sich wieder in ihren Liebesroman.
Ich muss gestehen, dass Em, Cass und ich einen Moment ganz
still waren. Wir besitzen durchaus die Fähigkeit, uns schuldig zu
fühlen, und stecken uns gerne gegenseitig damit an. Wir mussten alle drei daran denken, wie seine Stimme geklungen hatte,
als er sagte: »Tut mir leid, ich glaube, ich habe mich verwählt.«
Noch nie in meinem Leben habe ich eine so tiefe Enttäuschung
gehört.
Em sagte: »Das wird ihm bestimmt eine Lehre sein«, mit zweifelnder Stimme, aber was sie wirklich sagen wollte, war: Sind wir
zu weit gegangen?
Jemanden erst in den siebten Himmel zu schicken, indem man
ihn glauben lässt, er wird ein Star. Nur um ihn dann wieder brutal
auf die Erde zurückzuholen.
Da sagte Cass mit total gefasster Stimme und todernstem Gesicht: »Mummy? Hilfe, meine Socken rutschen!« Mary-Ellen schaute kopfschüttelnd von ihrem Tisch zu uns rüber,
weil wir so laut lachten.
Ich will dir sagen, wie ich die Sache sehe: Em und ich versuchten
eine lange Zeit, Paul Wilson das wegzunehmen, was er am meisten liebte. Wir dachten, es sei seine Freundin. Cass dagegen hat
sofort erraten, was er in Wahrheit am meisten liebt:
Sich selbst.
Oder zumindest seine Vorstellung von sich selbst.
Er war so von sich überzeugt, dass er keine Sekunde lang zweifelte, als Em ihn anrief und sich als Castingagentin ausgab. Und Cass hat ihm all seine Träume weggenommen. Zumindest für einen Tag.
Jedenfalls, Seb, vermutlich hast Du keine Lust, über »du-und-ich« zu reden, während Du darauf wartest zu erfahren, ob Du von der Schule fliegst oder nicht. Ich wollte nur sagen, dass ich vielleicht doch etwas überreagiert habe, wegen der Art und Weise, wie Du mich hereingelegt hast – Du weißt schon, weil Du mein Foto kanntest, bevor Du mich gesehen
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