Der Tag der zuckersueßen Rache
mitzubringen), und in der nächsten Minute geht alles den Bach runter. Ich verstehe nicht ganz, warum sie mit den Jungs Streit haben, aber es hat was mit den Briefen zu tun, und ich muss sagen, ich weiß nicht, ob Briefe tatsächlich so toll sind. Vielleicht ist es manchmal besser zu reden. Ich sollte versuchen, etwas energischer zu sein, so wie Mum. Sie hat immer eine feste Meinung zu allem. Zum Beispiel vertritt sie schon seit unserer ersten Sitzung bei Claire die entschiedene Meinung, dass die eine dumme Kuh ist. Eines will ich Dir aber sagen, liebes Tagebuch, und das ist Folgendes: Obwohl Lyd furchtbar traurig ist wegen Seb, kommt sie in letzter Zeit (seit ich ihr die Wahrheit über Matthews Briefe gesagt habe) alle paar Tage bei mir vorbei und tut so, als sei sie gerade rein zufällig in der Gegend gewesen. Normalerweise reden wir über nichts Besonderes, hängen ein bisschen vor der Glotze oder spielen eine Partie Billard auf Dads altem Tisch, den er übrigens selbst gebaut hat und der ein echtes Kunstwerk ist. Und da Dads Tisch in seiner Werkstatt steht, ergibt es sich meistens wie von selbst, dass wir über ihn reden, und manchmal muss ich in mich hineinlächeln, weil Lydia meinen Vater fast so gut kannte wie ich. Sie erinnert sich sogar an Sachen, die ich längst vergessen habe, noch von damals, als wir klein waren und Dad uns immer kroatische Wörter beigebracht hat und diejenige das erste Eis bekam, die die Wörter am besten nachsprechen konnte. Und ich sage Dir noch was: Heute Nachmittag, während wir Billard spielten, verriet ich Lydia versehentlich meine Theorie, warum ich nicht aufhörte, Matthew Dunlop zu schreiben. Dass ich das Gefühl hatte, ich müsste ihm schreiben, weil ich meinen Vater enttäuscht hatte, da ich zu viel Schiss gehabt hatte, mich freiwillig für einen Auftritt beim Schulfest zu melden.
Ich lehnte an der Wand, während ich all das sagte, und Lydia versenkte einen Ball nach dem anderen und schaute mich nicht an,
sondern nickte nur ab und zu zum Zeichen, dass sie mir zuhörte.
Als ich fertig war, kreidete sie den Billardstock ein, beugte sich
vor und versenkte die schwarze Acht.
Dann starrte sie mich mit ganz schmalen Augen an und sagte:
»Mann, Cass, weißt du eigentlich, wie sauer ich deshalb auf dich
bin?«
Ihre Stimme klang wirklich verärgert.
Und sie sagte: »Glaubst du wirklich, dein Vater wollte, dass du
Dinge tust, die dir schaden könnten? Glaubst du wirklich, dein
Vater ist enttäuscht von dir, weil du nicht auf einer Bühne singst?
Hast du schon vergessen, wie dein Vater war? Willst du das damit sagen?«
Da wurde ich auch ein bisschen sauer und sagte mit lauter werdender Stimme: »Du denkst, ich hätte meinen Vater vergessen?
Denkst du, du kennst ihn besser als ich?« So ’n Zeug eben.
Lydia beruhigte sich und sagte, Nein, sie glaube nicht, dass sie
ihn besser kenne als ich. Nur eines wisse sie ganz genau.
»Was?«, fragte ich.
»Ich weiß, was dein Vater gesagt hätte, wenn er gesehen hätte,
wie du in der Schulversammlung sitzt und versuchst, dich zu
melden, aber zu viel Angst vor dem Auftritt hast. Willst du wissen, was er gesagt hätte?«
Sie wartete nicht auf eine Antwort und fuhr einfach fort, indem
sie den Akzent meines Vaters und seine Sprechweise ziemlich
treffend nachahmte: »Cassie, ich bin ja so stolz auf dich, dass du
überhaupt daran denkst, auf einer Bühne zu singen, und weißt
du, wie laut ich erst klatschen und jubeln werde, wenn du es tatsächlich tust?«
Dann sah sie mich mit ihrem wilden Blick an. » Enttäuscht?«, sagte sie voller Verachtung, wie zu sich selbst. »Jetzt mach aber mal halblang!«
Montag, abends, in der Küche, sehr windig draußen
Manchmal glaube ich, das Problem mit Dir, liebes Tagebuch, ist, dass alles so ernst scheint, wenn ich es aufschreibe. Gut, Freitag war schon irgendwie ein krasser Tag und ich weinte die halbe Nacht, aber als ich Samstagmorgen aufwachte, fühlte ich mich entspannt und glücklich und Mum und ich machten uns Pfannkuchen mit Ahornsirup und Erdbeeren zum Frühstück. Und heute tauchte Em mit ihrer Sommerschuluniform und ihrer Baskenmütze in der Schule auf. Weil ihr jemand erzählt hatte, dass sämtliche Hitze über den Kopf aus dem Körper verschwindet, dachte sie, solange ihr Kopf bedeckt wäre, bräuchte sie keine warmen Kleider anzuziehen. In der Mittagspause entdeckten Lydia und ich 127 Gänsehautpöckchen auf ihren Armen, während sie so tat, als würde sie nicht hören, wie
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