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Der Tag des Königs

Der Tag des Königs

Titel: Der Tag des Königs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abdellah Taïa
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Musik und Teil meiner selbst. Meine Mutter war mit meinem kleinen Bruder geflüchtet, ohne mir Bescheid zu sagen. Ohne mir behilflich zu sein, sie in mir zu orten und sie allmählich zu entziffern. In mir steckt ein ganzes Leben, das ich gar nicht kenne. Eine ganze Vergangenheit, die durch meine Adern strömt, ohne dass ich mir darüber im Klaren bin.
    Azemmour war meine Mutter.
    Irgendwann werde auch ich Azemmour kennen.
    Und meine Mutter? Niemals. Es ist schon zu spät. Für mich. Für meinen Vater. Für sie.
    Meine Mutter war eine Hure. Sie war, so erzählte es mein Vater Bouhaydoura, als Hure geboren. Als königliche Hure. Eine Hure und damit Symbol aller Frauen dieses Landes, Marokkos. Ein Sexsymbol. Sie hatte, wie mein Vater ohne Unterlass wiederholte, genau das, was ihn unwiderstehlich anzog. Was ihn eifersüchtig, besitzergreifend,
verrückt machte. Sie hatte den Teil seiner selbst in sich, den er nicht verstand und nie verstehen würde. Ihr stand Sex ins Gesicht geschrieben, wenn man meinem bedauernswerten Vater Glauben schenken wollte. Sie hatte die Macht. Und deshalb hatte er sie in den ersten Ehejahren gefangen gehalten. Er akzeptierte diese Macht. Er begehrte sie bei ihr, doch nur innerhalb des Hauses, im Schlafzimmer, im Bett. Körper an Körper. Er nackt. Sie nackt.
    Bei Bouhaydoura habe ich sie endlich erfasst, diese undurchsichtige Wahrheit. Die meiner Mutter. Eine Frau. Die Frau. Fragen, für alle Zeiten ohne Antworten. Die Frau meines Vaters. Ein Mann wie alle Männer. Enthüllt. Ohne Schnurrbart. Auf dem Weg in den Wahnsinn.
    Bei Bouhaydoura bestätigten sich meine kindlichen Intuitionen. Wir waren am Ende angelangt. Am Ende der mir vertrauten Welt. Am Ende meiner Familie.
    Der alphafte Traum mit Hassan II ., den ich am Vortag gehabt hatte, war ein Zeichen. Das Zeichen für den Beginn dieses Endes. Dieser Zerstörung.
    Wohin nun?
    Â 
    Die Frauen in Weiß auf der Terrasse waren verstummt. Manche von ihnen waren gar eingeschlafen. Andere beteten. Und manche weinten. In allen Gesichtern drückten sich Wut und Hass aus. Die Stunde der Rache hatte geschlagen. Sie würden unerbittlich sein. Erbarmungslos. Nichts konnte sie aufhalten.
    Als Bouhaydoura ernsthaft seine Arbeit in Angriff nahm, hatte er mich zu ihnen zurückgeschickt.
    Â»Geh jetzt, mein Sohn. Ich muss mich um deinen Vater kümmern. Du bist zu jung, um bei meiner Arbeit dabei zu sein. Das ist nichts für dich. Geh nur, geh auf die Terrasse. Aber sprich nicht mit den Frauen. Ich will, dass sie
für sich behalten, was sie mir zu sagen haben. Hast du verstanden? Sprich nicht mit ihnen. Verleite sie nicht zum Sprechen. Und antworte nicht auf ihre Fragen. Hast du verstanden? Wenn ich deinen Vater zu Ende behandelt habe, werde ich dich kurz allein empfangen. Geh nun, geh, und schweige.«
    Mir fiel es nicht schwer, die Anweisung Bouhaydouras zu befolgen. Auf der Terrasse war Stille die unausgesprochene Regel geworden. Die Frauen und ich waren uns in diesem Punkt einig. Die Arbeit des Hexenmeisters von Tabriquet durfte nicht gestört werden.
    Ich setzte mich neben eine alte schwarzhäutige Frau. Die einzige Schwarze. Ohne sie zu grüßen. Und ich hob die Augen gen Himmel, um die große, runde Sonne zu betrachten, die langsam auf uns zukam. An jenem Tag hatte die Sonne etwas Neues an sich. Sie war nicht dieselbe wie an den bisherigen Tagen. Sie war verändert.
    Die Sonne unserer Welt war tot. Diejenige, die ihren Platz eingenommen hatte, war jung, schwach. Sie fiel nicht ins Gewicht. Sie kannte uns nicht gut. Es war eine schüchterne, zerbrechliche, weitaus anrührendere Sonne als die der anderen Tage.
    Es war der Tag ihrer Geburt und vermutlich auch der ihres Todes.
    Ich gab ihr einen Vornamen. Anis. Und während ich darauf wartete, dass Bouhaydoura mich zu sich rief, betrachtete ich zärtlich, wie sie voranzog, zurückzog, spielte, fiel. Alles überstrahlte. Sich verlor. Aufhörte, sich zu drehen. Verschwand. Für immer. Ich ging mit ihr fort. Und rief dabei ihren Vornamen. Dreimal.
    Anis. Anis. Anis.
    Hat diese Sonne jemals existiert?
    Ich war traurig. Fast hätte ich geweint. Die alte schwarz
häutige Frau tröstete mich. Schweigend. Sie hatte alles verstanden. Sie war mir in die fernsten Verzweigungen meiner Phantasie gefolgt. Auch sie hatte das herannahende Trauerspiel gesehen, die unabwendbare Tragödie. Keine Sonne mehr. Anis war

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