Der Tag des Königs
Kenntnisse über sie, in einer Art Hassliebe. Er sah in der Sonne eine ernste, eindeutige Bedrohung.â
Er redete irres Zeug. Ich hörte ihm zu. Seine Bilder waren meine Bilder. Seine Sonne meine Sonne.
»Bald, sehr bald kommt der Tag, an dem uns die Sonne töten wird. Tag für Tag kommt sie uns, der Erde, ein wenig näher. Bald werden wir wegen ihr schmelzen, wir alle, wir und alles. Wir werden flüssig werden wie Eis, wir werden zu Wasser, erst farblos, dann schwarz, sehr schwarz. Die Sonne kommt näher. Auch wenn die Fensterläden immer geschlossen sind, sehe ich sie von meinem Zimmer aus sehr gut. Es ist furchtbar. Die Sonne ist nicht gelb, wie man annimmt, sie ist rot. Rot wie die Hölle. Rot. Ein Magma. Die Sonne ist nicht unser Freund, sie liebt uns nicht. Man braucht nur die anderen Zivilisationen zu betrachten, die von vor langer, langer Zeit. Die Sonne übte schlieÃlich Verrat an ihnen allen, sie war nicht mehr ihr Besitz, ihr Begleiter: Sie zerstörte sie von heute auf mor
gen, einfach so, schnell, auf einen Schlag. Und sie empfindet keinerlei Gewissensbisse. Es war einfach für sie. Ihre Strahltemperatur liegt bei 5870â°C. Stell dir das mal vor, Omar. Kannst du dir das vorstellen? 5870â°C.«
Vorstellen konnte ich mir das überhaupt nicht. Ich versuchte gar nicht zu verstehen. Aber ich war glücklich, ihm, Khalid, zuzuhören. Die einzige Person auf der Welt zu sein, der er all diese Visionen, diese Ãngste erzählte. Diese Vorahnungen. Dieses nahe Ende.
»Die Sonne und der Tod fixieren sich. Die Sonne gewinnt. Bald wird sie triumphieren. Explodieren. Alles wird zu Finsternis werden. Es wird nichts mehr unter der Sonne geben, nichts Neues mehr. Ich, du, Papa, Mama, alle, selbst der König, alle werden mit diesem Ende verschmelzen. Wir werden nicht mehr existieren. Wir werden nicht mehr da sein. Begreifst du das? Ich ja. Ja und nein. Ich stelle mir vor, wie sich die Sonne mir nähert, näher, immer näher, sie blendet mich, erwischt mich, verbrennt mich allmählich, sehr langsam, verursacht Radiodermatitis, Erytheme auf meiner Haut. Sie schwärzt mich. Sie verwandelt mich. In Asche? In was genau? Ich frage mich, ob ich im allerletzten Moment vollkommen schwarz sein werde. Schwarz vor Verbrennungen. Ich habe noch nie darüber nachgedacht, über diese Frage. Vielleicht werde ich im Gegenteil zu Licht werden. Ich werde in einer Abfolge von Lichtstrahlen explodieren. Und am Ende werde ich zu DEM Licht. Du auch, Omar. Alle. Alle? Und .â.â. welches Licht wird aus uns? Welches ist das Licht der Finsternis? WeiÃt du es, Omar? Glaubst du an all das? Glaubst du mir?«
Ich glaubte ihm, ja, ich glaubte ihm. Er hatte die Macht auf seiner Seite. Der Reichtum seiner Eltern, seiner sozialen Schicht, schützte ihn, machte seine Träume glaubhaft, ver
lieh seinen Visionen Gewicht. Er konnte es sich erlauben. Es war ein Luxus. Luxus schlechthin. Mit meinem Segen und meiner Bewunderung für alle Ewigkeit.
Ich lauschte ihm. Ich folgte ihm im Dunkel seiner Gedanken, betend, hoffend, dass diese seltenen Augenblicke, die ich nur mit ihm in seinem seltsamen Zimmer erleben konnte, niemals aufhören würden. Und nur dann, in diesem Raum, in dieser Zeit, in dieser Stille und diesen Worten, die er erfunden hatte und aussprach, in denen ich mit und hinter ihm voranschritt, ein Armer mit einem Reichen, ein Armer an einen Reichen geklammert, dort in dieser anderen Welt konnte ich mir endlich alles erlauben. Hatte eine Zeitlang Zugang zur selben Freiheit wie Khalid.
Nachdem ich die Einkäufe und meinen Vater nach Hause gebracht hatte, war an jenem Tag ich derjenige, der in diesem dunklen Zimmer sprach, der sprechen wollte. Ãber meinen Traum mit Hassan II . Und dann über Bouhaydoura, der mir eine Aufgabe anvertraut hatte.
Mir fiel kein Anfang ein. Khalid nutzte das aus und erzählte eine weitere seiner Visionen. Er hatte immer eine für uns auf Lager.
»Warte, Khalid, warte. Ich wollte dir etwas sagen .â.â. ich .â.â. auch .â.â.«
»Aha! Soso!«
»Ja. Wundere dich nicht. Dieses Mal ist es wichtig. Es ist ein Traum. Ein richtiger Traum.«
»Ein richtiger Traum? Ein Traum aus der Nacht?«
»Ja.«
»Und du kannst dich genau daran erinnern? So ein Glück. So ein Glück. Ich erinnere mich nie an meine Träume, an meine Träume aus der Nacht. Ich
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