Der Tag des Königs
Seite zu rennen, zu leiden, sich grundlos zu überbieten. Zum letzten Mal auf gleichem FuÃ. Zum letzten Mal fortgetragen vom selben AtemstoÃ, von derselben Luft. Knapp 14-jährige Jugendliche, die noch einmal für einen Augenblick Kinder waren.
Das letzte Mal kostete Khalid diese einfache Freude aus, die er verspürte, wenn er mit mir zusammen war. Würde
er sie je irgendwo wieder finden? Mit wem? Zusammensein, Einssein, Glück anderswo als mit mir waren also möglich. Wirklich? Für ihn? Für mich?
Ich war im Vorteil. Ich konnte entscheiden.
Ich dachte an meinen Vater, der wohl gerade Mittagsschlaf hielt. Ich dachte inständig an ihn, auÃer Atem, mit wallendem Blut. Und ich rannte weiter. Mit meinem Vater in Tuchfühlung. Einige Augenblicke getrennt von meinem Freund Khalid.
Ich hörte meinen Vater. Seine schläfrige Stimme sagte zu mir: »Lass Khalid gewinnen. Es ist sein Tag, nicht deiner. Lass ihn einmal ganz anders die Freude und den Sieg entdecken. Er verdient es, zu gewinnen. Er wird gewinnen.«
Ich war groÃzügig. Ich verlangsamte meinen Rhythmus. Ich lieà ihn mich überholen. Ich sah ihn siegen.
An diesem Tag gewann ich nicht. Mein Vater ist schuld daran.
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» Der kleine Dingsda « von Alphonse Daudet stand normalerweise nicht auf dem Lehrplan. Frau Cherki, die Französischlehrerin, hatte uns einen Monat vor Schuljahresende gebeten, den Roman zu besorgen und das Anfangskapitel für die letzte Stunde mit ihr zu lesen. Khalid hatte mir mein Exemplar bei einem fliegenden Händler in Rabat gekauft.
Ich mochte Französisch nicht. Ich konnte es nicht gut. Es war keine Sprache für mich. Keine, die meine sein konnte. Ich mochte die Literatur in dieser fremden Sprache nicht. Für immer fremd in Marokko.
Doch Der kleine Dingsda gefiel mir gleich vom Buchdeckel an, auf dem ein sehr ergreifendes französisches Gemälde, »Armer Schüler« von Antoine Mancini, abgebildet war. Das erste Kapitel hatte mich begeistert, und ich
wollte das ganze Buch während der Schulferien zu Ende lesen.
Das erste Kapitel, »Die Fabrik«, hatte ich also gelesen. Ich hatte nicht alle Wörter verstanden, nicht alles begriffen, was es zu begreifen galt, so einfach gleich auf Anhieb. Aber das war nicht schlimm. Etwas von diesem Buch war direkt in mein Herz vorgedrungen, trotz meiner Lücken im Französischen, trotz meiner feindseligen Einstellung gegenüber dieser Sprache und trotz meines Unglücks zu Hause. Ich hatte immerhin eine ganze Woche gebraucht, um dieses Kapitel zu lesen und, wie es die Lehrerin verlangt hatte, eine Zusammenfassung zu schreiben. In dieser Zeit hatte Khalid das Buch zu Ende gelesen.
Entgegen allen Erwartungen wollte Frau Cherki, die mich nie besonders gemocht hatte, dass ich einen Auszug aus dem ersten Kapitel laut vorlese. Frei herausgegriffen.
Ermutigt von Khalids Blick, schlug ich Der kleine Dingsda auf und las, am ganzen Körper zitternd, die folgenden Zeilen:
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»Was mich anbelangt, so war ich sehr glücklich. Kein Mensch kümmerte sich mehr um mich. Das nutzte ich aus, um den ganzen Tag mit Rouget in den leeren Werkstätten, wo unsere Schritte wie in einer Kirche widerhallten, und auf den verlassenen, schon mit Gras überwachsenen Höfen zu spielen. Der kleine Rouget, Sohn des Hausmeisters Colombe, war für seine zwölf Jahre ein starker Junge, kräftig wie ein Stier, treu wie ein Hund und dumm wie eine Gans. Ins Auge stach vor allem sein rotes Haar, dem er seinen Spitznamen Rouget, Rotschopf, verdankte. Allerdings muss ich gestehen, Rouget war für mich nicht Rouget. Er war nacheinander mein getreuer Freitag, eine Horde Wilder, eine meuternde Schiffsbesat
zung, alles Mögliche. Ich selbst hieà damals nicht Daniel Eyssette: Ich war dieser sonderbare, mit Tierfellen bekleidete Mann, dessen Abenteuer man mir kurz zuvor geschenkt hatte, Meister Crusoe in Person. (.â.â.)
Auch Rouget zweifelte nicht an der Bedeutung seiner Rolle. Hätte man ihn gefragt, wer dieser Robinson sei, hätte man ihn in Verlegenheit gebracht; indes muss ich sagen, er erfüllte seine Aufgabe mit der gröÃten Ernsthaftigkeit, und niemand konnte wie er das Gebrüll der Wilden nachahmen. Wo hatte er es gelernt? Ich weià es nicht. Doch sein gewaltiges Gebrüll, das er der Tiefe seiner Kehle entlockte, vermochte es, wenn er dazu auch noch seine dichte rote Mähne schüttelte,
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