Der Tag des Königs
einzig und allein im Traum?â
Meine Mutter richtete eine Nachricht an mich. Einen Aufruf. Ein Lebewohl. Einen Hilferuf?
Sie tanzte weiter, für mich. Ohne Musik. Ohne Publikum. Nur für mich, der ich dort, mit ihr, rings um sie, über und unter ihr war.
Ihre letzten Worte hallten andauernd in meinen Ohren wider, laut, fern, verständlich. Immer trauriger.
»Sag deinem Vater, dass ich zu meinen Ursprüngen zurückgekehrt bin. Zu meiner eigenen Mutter.«
Ein Lied? Eine Machtergreifung? Eine Abkehr? Eine erste
Liebe? Der erste erspürte Ort? Das älteste Gewerbe: die Prostitution?
Die Quelle von allem, ein Flusslauf, der ins Meer mündet, der sich hineinwerfen, sich in aller Heftigkeit mit dem Ozean vereinigen will: der Oum Rbii?
Ich empfand den Schmerz. Ich verstand meine Mutter, ohne sie zu verstehen. Ich sah sie mit anderen Augen und verurteilte sie nicht. In ihrem Geheimnis, in ihrem Aufbruch, in ihrem Leiden wurden wir vereint.
Dachte sie an mich? Würde sie eines Tages wiederkommen?
Mussten wir sie dazu bewegen zurückzukommen oder â wie es der Hexenmeister Bouhaydoura vorschlug â sie ein neues Leben beginnen, ihr Leben von früher fortsetzen lassen?
Ich wusste nicht, wie ich mich entscheiden sollte.
Khalid, der noch immer den bescheidenen, tadellosen Schüler mimte, hatte seine Rede beendet. Die gesamte Klasse applaudierte nun sehr herzlich.
Abgesehen von mir.
Ich war eifersüchtig. Jawohl, eifersüchtig. Ich fühlte mich verraten. Tief verletzt. Verleugnet. Mit tausend Messerstichen getötet. Khalid hatte mir nicht das Wesentliche gesagt: Er würde die Hände von König Hassan II . tatsächlich küssen.
Ich nicht.
Ich hatte ihm meinen Traum mit Hassan II . erzählt. Er hatte mir viele Fragen gestellt. Ich hatte geantwortet, tief in meinem Kopf gegraben, um ihn zufriedenstellende Antworten zu finden. Er hatte mehrere Gelegenheiten gehabt, mir zu sagen, dass er seinerseits von Hassan II . empfangen werden würde. Ich hatte diese Neuigkeit, wie alle, aus dem Mund dieses gräulichen Schuldirektors erfahren.â
Wovor hatte Khalid Angst?
Wer bin ich für Khalid?
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Bevor er ging, ergriff der Direktor erneut das Wort und redete lange.
»Vergesst nicht, meine lieben Kinder, dass morgen ein groÃer Tag ist. Ihr erinnert euch doch, nicht wahr? Morgen .â.â. ist der Tag des Königs. Ihr alle müsst den König und den hohen Gast grüÃen, den er am Flughafen Rabat-Salé empfängt. Der königliche Festzug wird wie gewöhnlich nur wenige Meter vor unserem Collège vorbeifahren. Ihr müsst alle hingehen. Habt ihr mich verstanden? Der Festzug wird, wenn alles glatt läuft, gegen 13 Uhr vorbeifahren. Ihr müsst so früh wie möglich an Ort und Stelle sein, spätestens gegen 11 Uhr. Verstanden? Und natürlich fällt euer Unterricht morgen Vormittag aus. Wenn der König vorbeigefahren ist, kommt ihr alle wieder zurück ins Collège. Wir veranstalten dann eine kleine Feier zu Ehren eures brillanten Kameraden, des Stolzes dieser Schule und der Stadt Salé, Khalid El-Roule. Bringt, wenn ihr könnt, Limonade, Coca-Cola, Judor, La Cigogne oder Yuki mit, was ihr eben so findet. Und auch Kekse. Kekse von Henry's zum Beispiel. Sie sind nicht teuer. Ich habe gehört, dass das die Lieblingskekse unseres Schülers Khalid sind.â
Morgen ist der Tag des Königs. Und in unserem Collège wird es auch der Tag Khalids sein.
Morgen ist ein Festtag.
Morgen wird die Welt eures Collège eine andere sein. Ihr werdet sehen.
Morgen wird sogar das Fernsehen in unser Collège kommen. Ihr werdet sehen. Mehr will ich nicht verraten. Es wird ein groÃes Ereignis. Das Ende des Schuljahres. Der
Festtag für Khalid. Unser aller Festtag, um mehrere Ereignisse gleichzeitig feierlich zu begehen. Kommt alle. Ich dulde nicht, dass jemand fehlt. Das ist ein Befehl. Keiner darf fehlen .â.â. Habt ihr alle verstanden?
Also bis morgen.«
»Sie wird nicht wiederkommen, nicht wahr? Nicht? Aber ich will, dass sie wiederkommt, dass sie wieder ihren Platz einnimmt, dass sie wieder meine Frau ist, wie früher, wie immer. Hörst du? Das ist ungerecht. Das ist ungerecht. Findest du das etwa gerecht? Du und ich, zu zweit, allein. Allein und tief betrübt. Ich, allein, ohne Frau, ohne meine Frau, das ist ungerecht, das ist ungerecht. Gott liebt mich nicht mehr. Gott. Wo ist er? Wo ist
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