Der Tag des Königs
dort meine Spur hinterlassen. Eine Träne. Eine Klage. Eine aufkeimende Liebe. Einen heiÃen Kuss. Mein Fünkchen Verrücktheit. Ein Stück meiner schwarzen Haut.
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Später in jener Nacht zeigte mir Sidi ein Bild. Eine Postkarte.
»Das bist du. Kannst du sie deutlich sehen, diese Frau? Geh näher ran. Nimm die Postkarte in die Hand. Schau sie dir genau an. Das bist du. Nein? Findest du nicht? Diese schwarze Frau bist du. Dieses Bild aus einem anderen Jahrhundert, das bist du. Das ist ein Gemälde, das man in Paris, in Frankreich, im Louvre-Museum ansehen kann. Es heiÃt: Porträt einer Negersklavin. Es wurde zu Beginn des 19.âJahrhunderts von einer Malerin namens Marie-Guillaumine Benoist ausgeführt. Kennst du das Louvre-Museum? Nein? WeiÃt du, was das ist, der Louvre? Hast du schon einmal davon gehört? Nein? Und Paris? Auch nicht. Macht nichts. Macht nichts. Ich habe dieses Gemälde vor langem während meines Studiums in Paris dort entdeckt. Es hat mich sofort fasziniert, und ich bin Dutzende Male wieder hingegangen, um es zu bewundern. Um die schwarze und stolze Frau zu begrüÃen. Ich war in sie verliebt. Das bin ich noch immer. Da ich sie immer wieder betrachtete, hatte ich einen Teil der geheimnisvollen Schönheit schwarzer Frauen erfasst. Verstehst du? Das ist sehr wichtig für mich. Diese Postkarte, die du in der Hand hast, hat mich immer begleitet. Vor zwei Wo
chen habe ich dich gesehen. Ich weià nicht, seit wann du bei uns arbeitest. Ich habe dich gesehen. Ich habe dich wiedererkannt. Ich konnte es nicht fassen. Du bist wie die schwarze Frau auf dem Gemälde. Genau wie sie. Du bist sie. Es ist unglaublich. Du bist sie. Ständig weià gekleidet, wie sie. Du hast ihre merkwürdigen Augen. Ihre wuchtige Stirn. Ihre klobige Nase, die ich jedoch sehr zart finde. Du bist geheimnisvoll wie sie. Du bist vom gleichen Schwarz wie sie. Vom gleichen Schwarz. Du bist wie ein Ruf. Du leuchtest. Du hast mich gerufen. Glaubst du mir? Du musst mir glauben. Du bist ein Rohmaterial, faszinierend, ein seltenes Element, ein unglaublicher Körper. Ich muss dich malen. Ich muss .â.â. Ich muss ein Bild aus dir machen. Ich muss .â.â. Ich muss etwas in dir für mich nehmen. Das bist du. Dir verdanke ich, dass ich mich an diese Malerei erinnere. Der Wunsch zu malen wird in mir wach. Ich muss dich malen. Dich ehren. Glaubst du mir? Ich meine es ernst. Glaubst du mir? Du inspirierst mich. Glaubst du mir? Bist du einverstanden?â.â.â.«
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Es hat ein Jahr gedauert.
Und es hat kein Ende gegeben.
Die Frau des Gemäldes war nicht ich. Sie sah mir nicht ähnlich. Sidi irrte sich. Ihr Schwarz ist nicht mein Schwarz. Vielleicht waren uns nur die Augen gemeinsam. In der Tat merkwürdige Augen. Traurige, verbitterte Augen, ihre etwas mehr noch als meine.
Sidi gefiel mir wirklich. Ich sagte es ihm nicht. Ich hatte kaum etwas von dem verstanden, was er mir erzählt hatte. Ich lieà ihn glauben, was er glauben wollte. Ich schenkte ihm meinen Körper. Meine Nächte. Meine Geschichte ohne Worte. Meinen Atem. Ohne mir Fragen zu stellen. Für ihn drehte ich die Zeit zurück. Ich nahm die Pose
der Negersklavin auf dem Gemälde ein. Ohne mich mit ihr zu identifizieren. Ohne sie zu mögen.
Ich bin Hadda. Ich werde nie eine verwandte Seele finden. Ich kann die Zukunft voraussagen. Die verborgene Vergangenheit aufdecken. In mir die Stimmen einer anderen Welt aufnehmen.
Ich bin Hadda. Auf der Flucht vor meinem Schicksal. Man will, dass ich eine Hexe werde, dass ich die Nachfolge antrete. Dass ich sehe.
Ich will nicht sehen. Ich will nicht für die anderen sehen. Ich verweigere diese Verantwortung, diese Last.
Doch sie bestehen darauf. Sie sagen, ich sei eine besondere Frau, ich sei die Auserwählte. Ich hätte keine andere Wahl. Sie wollen, dass ich die Welt verlasse, dass ich mich ihnen hingebe. Die Geister. Die Dschinns. Als Vermittlerin dienen. Als Bindeglied. Als Ort.
Ich weigere mich.
Ich bin nicht diese Frau. Ich bin keine gute Frau. Ich bin schlecht. Ein Luder. Eine Hure. Ich spreize meine Schenkel für jeden. Ich verrate jeden. Ich bin jung, zu jung. Ich habe bereits eine erste Welt verlassen, meine Familie. Ich will nicht wieder auf endlosen StraÃen weiterziehen. Ich sehe nicht. Ich kann nicht sehen. Ich verweigere dieses Schicksal, das mir aufgezwungen wird. Ich bin raffiniert, verkommen, sexuell,
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