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Der Tag des Königs

Der Tag des Königs

Titel: Der Tag des Königs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abdellah Taïa
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schmutzig. Ich lebe in der Schande. Ich bin keine gute Muslimin. Ich bin keine Muslimin. Gott liebt mich nicht. Nicht einmal die Frau des Gemäldes liebt mich.
    Ich werde nicht sprechen. Ich werde nicht mehr sprechen.
    Ich dringe noch tiefer in das Schweigen ein.
    Schließlich gelang es mir, sie zu überzeugen. Sie hörten auf, mir frühmorgens einen Besuch abzustatten, kurz vor Tagesanbruch. Sie ließen mich in Ruhe. Haben sie
mich vergessen? Nein, ich weiß, dass sie das nicht taten. Sie werden nicht lockerlassen. Sie werden mir nie von der Seite weichen.
    Es gefiel ihnen nicht, dass ich meine Nächte damit verbrachte, für Sidi nackt Modell zu sitzen. Mich ohne Worte mit ihm zu verständigen. Ihrer Auffassung nach entfernten mich diese nächtlichen Zusammentreffen vom Wege der Reinheit, der Heiligkeit. Ich verlor meine Zeit, meinen Weg, meine Berufung. Ich täuschte mich. Sie wiederholten, dass mich mein Schicksal früher oder später einholen, wieder einholen würde.
    Mag sein.
    Einstweilen gefiel es mir, jede Nacht die Augen Sidis wiederzufinden. Die Gemälde Sidis. Die Hände Sidis. Das Geschlecht Sidis.
    Die Negersklavin des Gemäldes mochte mich nicht. Zu Recht.
    Sie war im Lauf der Zeit zu meiner Rivalin geworden. Zu meiner Gegnerin. Augen, die sich nie schlossen. Auch sie hatte die Gabe zu sehen.
    Sie musste getötet werden.
    Ich werde es tun.
    Â 
    Es gibt Momente, in denen ich nicht mehr weiß, wer ich bin. Alle Fiktionen, die ich für mich ersonnen habe, hören auf. Aller Geschmack in mir löst sich in Luft auf. Ich bin mit niemandem mehr verbunden. Weder mit den Dingen noch mit den Zeichen.
    Ich bin abgetrennt. Leer. Zerborsten.
    Ich durchquere eine unermessliche Nacht. Ich erreiche die Einsamkeit, ihre Quelle. Ich trinke.
    Mein Körper ist sonderbar. Die wunderlichen Empfindungen, die ihn durchdringen, quälen mich. Ich habe im
mer mehr Visionen. Jeden Tag wird mir die Wahrheit gezeigt. Die blanke Wahrheit. Die Wahrheiten. Blank. Ich weiche ihnen aus. Sie interessieren mich nicht.
    Ich bin nicht bereit. Ich werde es nie sein.
    Nochmals umherirren? Sich nochmals verlieren? Noch einmal? Sich selbst aufgeben, obwohl man lebendig ist? 
    Gebt mir diese Fähigkeit nicht. Die Hexenkunst ist nichts für mich. Mir fehlt die Begabung dafür. Ich werde nicht wissen, wie man vorgehen muss. Ich werde sie nicht erlernen. Ich will meinen Körper nicht aufgeben. Ich kenne ihn noch nicht gut genug. Lasst ihn in Frieden. Lasst ihn in Frieden. So hat er genug gelitten. Lasst mich noch über ihn wachen, das ist alles, was ich habe. Lasst mich ihn zurückholen in den Mittelpunkt meiner Welt. In Berührung mit der weißen Haut von Sidi Hamid. Habt Erbarmen mit ihm, mit mir, mit uns. Bitte. Bitte. Das bin nicht ich. Ihr täuscht euch. Was soll ich nur tun, um euch zu überzeugen? Hört ihr mir zu? Seid ihr da? Da, in mir? Mich erwartet das Leben, lasst es mich in Ruhe genießen. Hört ihr mich? Bitte, hört ihr mich?
    Mein Körper hörte mir nicht zu. Er gehörte ihnen, von Anfang an.
    Mein Körper verriet mich.
    Eine Stimme sagte zu mir: »Du bestimmst nicht über dich selbst. Du wirst nie über dich selbst bestimmen.«
    Ich glaubte ihr nicht. Hätte ich ihr glauben sollen? Mir all dieses Leid ersparen? Aufhören, mich zu widersetzen? 
    Ich kenne ein Mädchen wie mich, dem man denselben Namen gab wie mir. Auch dieses Mädchen sagte nein. Alle drängten es dazu, Seherin zu werden, sich zu opfern, auf sein Leben zu verzichten. Seine Familie, bebend vor Angst, hatte es verkauft. Es war stark, stärker, als man ge
dacht hätte. Tag für Tag, Nacht für Nacht sagte es weiterhin nein.
    Ich war sehr jung, ein fünf- oder sechsjähriges Kind, als sich all dies ereignete.
    Es hatte gewonnen. Jedenfalls glaubten das alle. Man hatte es befreit, man hatte es wieder den Freuden seines Mädchenlebens überlassen. Wir täuschten uns. Wir alle täuschten uns. Eines Morgens wurde es tot in seinem Bett aufgefunden, inmitten seiner Schwestern.
    Sie waren es, ja sie, die es beherrschten. Es war ihr Besitz. Allen wurde es erneut bewusst, und alle hatten erneut den Beweis dafür.
    Es war ungehorsam. Es wollte nicht hören, was man ihm sagte. Es hatte gekämpft, allein, von allen im Stich gelassen. Und genau in dem Augenblick, in dem es glaubte, seine Dämonen endgültig besiegt zu haben, zeigte man ihm

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