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Der Tag ist dein Freund, die Nacht dein Feind (German Edition)

Der Tag ist dein Freund, die Nacht dein Feind (German Edition)

Titel: Der Tag ist dein Freund, die Nacht dein Feind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Münster
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jedoch nicht beantworten, weil sie selbst auch keine schlüssigen Antworten von ihrer Mutter erhielt. ‚Was ist mit deinem Vater passiert?‘ ‚Wieso sind deine ganzen Verwandten so früh gestorben?‘ Auf diese und andere Fragen wusste Emily selbst keine Antwort, weder in ihrer Kindheit noch heute, weil Mrs. Watson einer klaren Stellungnahme so lange ausgewichen war, bis ihre Tochter es schließlich aufgegeben hatte, zu fragen.
    Dieser Umstand und die Tatsache, dass sie zu Hause beinahe wie in einem Gefängnis gehalten wurde, machten ein normales Mutter-Tochter-Verhältnis irgendwann unmöglich.
    Hier in New York hatte Emily nach ihrem Schulabschluss eine neue Heimat gefunden. Sie hatte studiert und sich ein Leben aufgebaut. Sie lebte vorwiegend alleine und zurückgezogen, weil sie niemandem wirklich vertraute, doch immerhin hatte sie an der New York University zwei Freundinnen gefunden, mit denen sie sich noch heute recht regelmäßig traf. Alle anderen Kontakte liefen rein beruflich ab, entweder im Lehrerzimmer der High School, oder in dem Verlag, der sie betreute, wenn sie neue Romane veröffentlichte.
    Ihre einzige wirklich enge Freundin war Meredith, eine der beiden NYU-Bekanntschaften. Sie hatte ebenfalls auf Lehramt studiert und war nun an einer High School in Brooklyn tätig. Nach dem, was Meredith über ihre Arbeit erzählte, war Emily froh, in Manhattan eine Anstellung gefunden zu haben . D och das Pflaster einer High School war fast überall in amerikanischen Großstädten unangenehm und gefährlich, was teilweise auch auf die lockeren Waffengesetze zurückzuführen war. Man musste schon einen Lehrstuhl an einer der heiß begehrten Privatschulen des Landes ergattern, um das große Los zu ziehen : Gehorsame Schüler, die alleine schon deswegen fleißig lernten und sich tadellos verhielten, weil ihre Eltern ihnen ansonsten wegen des verschwendeten Schulgeldes im fünfstelligen Bereich die Hölle heiß machten und sie gegebenenfalls sogar enterbten. Doch Emily gab sich nicht der Illusion hin, einmal an einer solchen Schule unterrichten zu dürfen. Davon abgesehen war ihr Ziel auch ein anderes: Sie wollte als Bestsellerautorin durchstarten und damit viel Geld verdienen. Einen ganz ordentlichen Start hatte sie bereits hingelegt, immerhin hatte ihr dritter Roman eine Auflage von 3000 erreicht, was für ihre Maßstäbe nicht zu verachten war. Doch bis zu den Bestsellerlisten war der Weg noch weit. Ein Grund mehr, sich bei ihrem aktuellen Werk richtig ins Zeug zu legen.
    Eine Dreiviertelstunde nach Schulschluss erreichte die Lehrerin und Autorin schließlich das Gebäude, in dem ihr Apartment lag. Es war ein alter, schmutziger Backsteinbau im Herzen von Queens, der dringend einer Sanierung bedurft hätte, doch aus dem Inneren ihrer Wohnung hatte Emily das Beste gemacht: Dicke weiche Teppiche lagen überall auf dem abgewetzten Linoleum, das sandfarbene Sofa wurde von hübschen, bunt bestickten Kissen verziert, und an den Fenstern, die stets frisch geputzt waren, hingen freundliche, saubere Gardinen. Mitten im Wohnzimmer, einen halben Meter von der Rückseite der Couch entfernt, stand ein Raumteiler, ein übermannshohes Regal ohne Rückwand, in dessen offenen Fächern Unmengen von Büchern, Kästchen und Nippes standen. Jenseits dieser künstlichen Wand hatte sich Emily ein kleines Büro geschaffen. Ein großer Schreibtisch mit schwarzem Metallfuß und einer schweren Glasplatte stand an der Wand am Fenster, so dass Emily beim Schreiben dem Treiben auf New Yorks Straßen zusehen konnte. Seitlich über dem Schreibtisch hing ein Regal an der Wand, in dem sie ihre sämtlichen Schulunterlagen aufbewahrte. Alles, was zu ihrem Dasein als Autorin gehörte, bewahrte sie dagegen in zwei Fächern des offenen Raumteilers auf. Doch trotz der tausend Kleinigkeiten und Figuren, die jeden der seltenen Besucher in ihrer Wohnung beinahe zu einer Schatzsuche anregten, hatte alles seinen festen Platz und eine unverrückbare Ordnung.
    Als sie sich an diesem Nachmittag mit ihrer Lieblingstasse in den gemütlichen Schreibtischstuhl aus Leder fallen ließ und an dem heißen, frisch gekochten Kaffee nippte, während draußen langsam ein grauer Nieselregen einsetzte, wollte sie den Höhepunkt ihres neuen Romans noch einmal durchdenken. Der Mörder sollte entlarvt und gefasst werden, was ein hohes Maß an Konzentration erforderte, denn die Komplexität der Handlung ließ keinerlei Fehler in der Erzählung zu. Alles musste stimmig sein und

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