Der Tag ist dein Freund, die Nacht dein Feind (German Edition)
Telefonnummer. Sobald ich in London bin, werde ich Sie aufsuchen. Ach, und noch etwas: Ist der Wohnsitz meiner Mutter noch aktuell, oder ist sie in den letzten Jahren umgezogen? Wir hatten seit Jahren keinen Kontakt mehr, deswegen…“
„Sie wohnt noch immer in dem alten Herrenhaus. Sie wurde auch dort gefunden, in der Küche.“
Bevor die Übelkeit Emily übermannte beendete sie das Gespräch und floh danach ins Badezimmer, um sich zu übergeben.
Am folgenden Abend, es war ein Mittwoch, saß Emily Watson erschöpft ihrer Freundin Meredith bei ihrem Lieblingsitaliener ‚Amore’ gegenüber und schlürfte resigniert ihren Campari Orange. Meredith schwang ihre leuchtend roten Locken nach hinten und schüttelte zum x-ten Mal an diesem Abend verständnislos den Kopf.
„Deine Mutter war gerade mal Mitte fünfzig! Da fällt man doch nicht einfach tot um! Haben sie Selbstmord schon ausgeschlossen?“
„Der Anwalt hat noch gar nichts gesagt. Nur, dass man momentan von einem Herzstillstand ausgeht. Aber ich meine… hallo? Das Herz bleibt beim Tod wohl immer stehen, oder nicht? Von daher kann man auf die Aussage ja wohl nicht viel geben.“
Nach einem skeptischen Blick von Meredith setzte sie hinzu: „Ja, ich weiß, das ist eine medizinische Diagnose. Ich meinte ja bloß.“
Emily seufzte und ließ sich auch nicht von der großen Pizza aufmuntern, die nun vor ihre Nase gestellt wurde. Funghi, extra scharf, mit Artischockenherzen.
„Lass es dir schmecken, Liebes. Wer weiß, ob du in England was Anständiges zu Essen bekommst!“
Nun musste Emily doch lächeln. „Genau das sagen die Engländer auch von den USA!“
Meredith grinste und schob sich genüsslich eine Gabel Lasagne in den Mund. „Ja, vielleicht. Aber hat England nicht erwiesenermaßen eine grauenhafte Küche?“
Ihre Freundin lächelte müde .
„Früher schon, aber das hat sich geändert , hoffe ich zumindest . Ich war ja ewig nicht dort. Wie dem auch sei. Ich werde wohl die Restaurantszene dort erkunden müssen, denn es gibt niemanden mehr, der mich willkommen heißen würde.“
„Warum eigentlich nicht? Du wirst doch in deiner Jugend dort Freundinnen gehabt haben. Eine Clique oder so.“
Traurig schüttelte die Wahl-New Yorkerin den Kopf. „Um meine Familie haben irgendwie immer alle einen großen Bogen gemacht. Alleine schon, weil ich Watson heiße , wollte niemand etwas mit mir zu tun haben. Es gingen immer Gerüchte um, doch niemand wollte mir je erzählen, was für welche genau. Ist ja klar. Ich meine… wer würde dir schon ins Gesicht sagen, dass er nichts mit dir zu tun haben will, weil du ihm unheimlich bist oder so. Und meine Eltern haben mir am allerwenigsten erzählt. Ich weiß nicht, wie oft ich mir von ihnen anhören musste, ich soll mir einfach nichts daraus machen. Leichter gesagt als getan! Ich habe immer das Getuschel der anderen in den Ohren gehabt. Manchmal hatte ich regelrecht das Gefühl, dass die anderen Kinder in meiner Klasse Angst vor mir ha b en , und auch ihre Eltern . Einfach so ungefähr jeder in unserem Umfeld. “
Emily senkte traurig den Kopf und stocherte lustlos in einem Pilz herum.
Meredith schüttelte fasziniert den Kopf und nippte an ihrem Rotwein. „Was glaubst du denn , warum das so war? Ich meine… wie kamen die Leute auf die Gerüchte, was immer sie auch besagt haben? “
„Ich habe keine Ahnung. Aber ich glaube, dass es außer meiner Mutter und mir schon sehr früh niemanden mehr gab , der zu uns gehörte, hat d azu beigetragen. Der Tod meines Vaters hat noch einen oben drauf gesetzt. Ich selbst weiß nur, dass viele aus meiner Familie sehr früh gestorben sind. Die Leute haben sich wohl sehr angeregt darüber unterhalten, durch was für schreckliche Krankheiten meine Familienangehörigen ums Leben gekommen sein könnten . Ich habe nie erfahren, was tatsächlich dahinter steckt . Vielleicht habe ich auch nicht hartnäckig genug nachgefragt. Ich weiß es nicht. Das ist alles so lange her. “
„Vielleicht erfährst du ja jetzt mehr, wenn du hinfliegst.“
Emily nickte zögernd . „Ja vielleicht. Das Komische ist…ich fühle nichts. Keine Trauer. Ich habe mich gestern nach dem Anruf des Anwalts übergeben, aber davon abgesehen… ich meine: M eine Mutter ist gestorben, meine letzte lebende Verwandte. Sollte ich da nicht so was wie Trauer empfinden? Aber ich spüre ehrlich gesagt nichts außer einem ziemlichen Widerwillen, morgen in das Flugzeug zu steigen. “
Meredith sah ihre Freundin
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