Der Tag ist dein Freund, die Nacht dein Feind (German Edition)
liebevoll an. „Schätzchen, du stehst noch unter Schock. Die Trauer wird kommen, glaub mir. Alles braucht seine Zeit.“
Emily zuckte mit den Schultern und ließ sich nun endlich ihre Pizza schmecken. Grübeln brachte sie auch nicht weiter. Sie wollte nur den Nachlass ihrer Mutter schnell st möglich verwaltet haben und dann nach New York zurückkehren. Bloß keine alten Wunden aufreißen.
Zwei Stunden später verabschiedeten sich die jungen Frauen vor dem Restaurant von einander.
„Und du bist sicher, dass ich nicht mitfliegen soll?“
Emily nickte. „Ich weiß ja nicht, wie lange es dauern wird, und was überhaupt alles zu tun ist. Aber ich ruf e dich zwischendurch an, okay?“
„Auf jeden Fall , wenn du angekommen bist, hörst du? Ich will sicher sein, dass es dir gut geht.“
Emily verabschiedete sich von ihrer Freundin und ging gedankenverloren nach Hause. Sie musste noch packen und die Schule über ihre Abwesenheit informieren. Den Flug für den nächsten M orgen hatte sie bereits gebucht. Ein Taxi würde sie um sieben Uhr abholen und zum LaGuardia Airport bringen.
2
Nach neun Stunden Flug erreichte Emily Watson um 23.40 Uhr Ortszeit den Flughafen London Heathrow. Nachdem sie nach einer halbstündigen Wartezeit endlich ihren Koffer vom Paketband hieven konnte, überlegte die Heimgekehrte zunächst, den Heathrow Express zum Bahnhof Paddington zu nehmen, entschied sich dann aber aufgrund der späten Stunde doch gegen die Zugverbindung und stieg stattdessen in eine der vielen Taxen ein, die vor dem Flughafengebäude in einer langen Warteschlange standen.
„Zur dieser Adresse bitte.“ Sie gab dem Fahrer den Zettel mit der eilig hin geschriebenen Anschrift der kleinen Pension, die sich Emily für die Dauer ihres Aufenthalts in London ausgesucht hatte. In ihrem Elternhaus zu bleiben, in dem ihre Mutter gerade erst gestorben war, brachte sie keinesfalls über sich. Als sie den neugierigen Blick des Mannes durch den Rückspiegel bemerkte, lächelte sie zuvorkommend und wies ihn darauf hin, dass sie keine Touristin war. „Ich komme von hier, also geben Sie sich keine Mühe, einen Umweg zu fahren.“
Der Fahrer nickte lachend und lenkte das Taxi auf die zu dieser Uhrzeit relativ wenig befahrene Zufahrtsstraße zur Autobahn. Die Scheibenwischer des Wagens wischten träge Regentropfen von der Scheibe, die sich stetig aus dem nachtschwarzen Himmel lösten. „Wenn Sie von hier sind, wieso haben Sie dann einen amerikanischen Akzent?“
„Ich lebe seit ein paar Jahren in New York. Den Akzent von dort eignet man sich schnell an. Zu schnell.“
Tief in Gedanken versunken starrte sie hinaus in die nächtliche , vom Regen durchfeuchtete Szenerie . Alles war auf gespenstische Art und Weise vertraut, doch neuere Bauten, eine geänderte Straßenführung hier und da und sanierte Stadtv iertel ließen Emily sich wie einen Fremdkörper fühlen. Sie hatte in New York ihr Zuhause gefunden. Doch erst jetzt erkannte sie, dass sie noch nicht bereit gewesen war, England als Heimat völlig aufzugeben , auch wenn sie nur wenige glückliche Erinnerungen mit der Insel verband . Es war eine Flucht gewesen, damals vor sechs Jahren. Doch es war ein Unterschied , ob man das eine Land lediglich verlassen oder in einem anderen eine neue Heimat finden wollte.
Schneller als erwartet hielt der Fahrer vor einer kleinen Villa im viktorianischen Stil am Rande von Soho, die seltsam fehl am Platz wirkte zwischen den Galerien und Restaurants , die teilweise im chinesischen Pagodenlook aus der Dunkelheit hervor stachen. Emily lächelte traurig. England war ihr fremd geworden . Gehörte sie noch hierher?
„Hier, der Rest ist für Sie. Ich hoffe, die Dame ist noch wach und rechnet mit mir.“
Der Taxifahrer, ein älterer Mann mit eisgrauem Haar und strahlend blauen Augen, lächelte freundlich. „Vielen Dank, Miss. Sehen Sie nur, im unteren Geschoss ist noch Licht. Vielleicht haben Sie ja Glück und bekommen noch eine warme Mahlzeit .“
Die junge Frau freute sich über diesen Hoffnungsschimmer. Es war Mitte Oktober, und während New York einen milden Herbst genoss und unbeschwert den Farbwechsel der Jahreszeit erleben konnte, war es in London bereits empfindlich kühl und feucht. Emily würde am nächsten Morgen direkt ihren Lodenmantel und den langen Schal ihrer Mutter aus dem Koffer holen. Ihre Mutter… ein schmerzender Stich fuhr durch ihr Herz. Bevor sie sich dessen richtig bewusst werden konnte, marschierte sie mit dem Koffer in
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