Der Tag ist dein Freund, die Nacht dein Feind (German Edition)
Kopf unter dem Wasserstrahl stand. Es hörte sich immer noch fremd an. Es schien so unwahr. Unrealistisch. Das konnte doch nicht sein. Als Waise war man klassischerweise alleine auf der Welt. Man hatte niemanden mehr, zu dem man gehen konnte. Niemanden, der einem eine Umarmung schenken konnte. Das war durchaus nichts Neues für Emily, da sie seit sechs Jahren in einer fremden Stadt auskam, ohne je von einem Menschen innig umarmt worden zu sein , abgesehen von Meredith . Aber die Möglichkeit war immer da gewesen. Sie bestand, tausende Meilen weit weg, zu Hause in Fulham. Emily hatte immer gewusst, sie brauchte nur heim zu kehren und würde eine überfürsorgliche, aber liebende Mutter vorfinden. Und nun war niemand mehr da.
Eine gnadenlose, gewaltige Welle der Einsamkeit überflutete Emily. Sie kauerte sich in der kleinen Duschwanne zusammen , legte den Kopf auf die Knie und fing bitterlich an zu weinen. Sie wusste nicht mehr, ob sie nun doch endlich den Tod ihrer Mutter betrauerte, oder das Leben mit ihr, das so schwierig gewesen war, dass man es nicht genießen konnte, oder nur ihre eigene Einsamkeit. Die Welt um sie herum schien in einem dunklen, tosenden Loch aus Einsamkeit und Bitterkeit zu versinken .
Emily hatte keine Ahnung, wie lange sie so da gehockt hatte, doch irgendwann versiegten ihre Tränen schließlich, und sie lehnte sich erschöpft gegen die braun geblümten Kacheln in der Duschkabine, hob den Arm ein Stück und schaltete geistesabwesend das Wasser ab.
Ein Gedanke formte sich in ihrem Kopf. Und je stärker er wurde, desto schwächer wurde der Schmerz in ihrer Brust: S ie musste stark sein. Vielleicht würde sie irgendwann in New York einen Mann finden und mit ihm eine Familie gründen . V ielleicht würde das Glück des Lebens sie doch eines Tages finden und ihr zeigen, wie eine normale, glückliche Familie sich anfühlte. Aber solange es nicht soweit war, musste sie stark sein und sich ein dickes Fell zulegen . Sie hatte ihre Mutter sechs Jahre lang nicht gesehen, war Jahre ohne mütterliche Zärtlichkeit ausgekommen und sogar, ohne diese wirklich zu vermissen . Dann würde sie es auch weiterhin schaffen. Sie würde ihre Angelegenheiten regeln und dann in ihre neue Heimat New York zurückkehren. Und dort ihr Leben verbringen.
Entschlossen verließ Emily Watson die Dusche, trocknete sich ab, schminkte sich ein wenig und zog sich dann im Schlafzimmer an. Legere Eleganz war das Motto ihres Stils, bestehend aus einer sauberen Jeans, einer bequemen Bluse, einem dunkelblauen Blaser und bequemen schwarzen Halbschuhen, für einen Anwaltsbesuch durchaus angebracht. Als sie fertig war, kochte auch das Wasser in dem kleinen Wasserkocher, den Mrs. Mallon zusammen mit Teebeuteln, Milch, Zucker und ein paar Keksen auf einem kleinen Tablett im Zimmer angerichtet hatte. Emily goss sich einen Tee nach englischer Art auf und genoss den vertrauten Geschmack. Wieder schärfte sie sich selbst ein, die vertrauten Dinge zu genießen, aber keine Gefühle aufkommen zu lassen.‚Bloß nicht sentimental werden.’
Anschließend rief sie ihre Freundin Meredith an und riss diese aus dem Tiefschlaf, da es in New York gerade einmal halb drei Uhr morgens war.
„Tut mir leid! Ach verdammt, ich hab die Zeitverschiebung vergessen! Sorry. Hier ist es schon halb acht, und ich war irre früh wach. Was merkwürdig ist. Müsste ich nicht eigentlich eher todmüde sein? “
Meredith gähnte herzhaft in den Hörer und setzte sich hörbar im Bett auf. „Macht doch nichts, Schätzchen. Alles okay bei dir? Wie war die Nacht?“
„Ich habe geschlafen wie eine To… wie ein Stein. Die Hauswirtin ist eine kleine Quasselstrippe, aber sehr liebenswert. Sie hat mir tatsächlich spät in der Nacht noch heiße Hühnersuppe serviert, ist das zu glauben!“
Ihre Freundin grinste verschlafen . „Die feine englische Art eben, hm? Ich sag es mal aus der Ferne: W illkommen zu Hause, Emily Watson!“
Einen Moment schwieg die Engländerin. Sie wusste nicht recht, in wieweit sie Meredith ihre Gedanken anvertrauen sollte.
„Das hier ist nicht mehr mein Zuhause. Zu viele Erinnerungen… Zuhause sollte man doch Freunde und Familie haben, denkst du nicht? Mein Leben ist in New York. Ich erledige hier alles so schnell wie möglich und fliege dann zurück.“ Sie legte eine kleine Pause ein.
„Du, Meredith?“ „Hm?“ Die New Yorkerin schien schon wieder halb einzuschlafen.
„Wenn ich wieder zurück bin, würde es dir etwas ausmachen, ein paar
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