Der Tag ist hell, ich schreibe dir
Pia, allein. Ich hatte einer Frau die Hand geschüttelt, die etwas wie Turnseck gemurmelt hatte. War es deine erste Frau? Ich schüttelte ihr die Hand, wie vielen anderen.
Wenn Sie glauben, das Schlimmste erwarten zu dürfen, gönnen Sie mir ein paar Worte, damit ich kommen kann, die lieben Augen noch offen zu sehen, mit denen für mich sich – wie viel – schließt. Johannes Brahms an Clara Schumann
Die Trauerfeier fand in einer Art Festsaal statt. Außer dem Bundeskanzler und einem Ministerpräsidenten erkannte ich den ehemaligen Außenminister der Vereinigten Staaten von Amerika. Er sprach sehr ernst mit einem anderen Herrn, den ich nicht kannte. Ich kannte niemanden und ich war viel zu schüchtern, um Menschen anzusprechen; ich war stumm vor Ratlosigkeit über alles; ich verstand nicht wirklich, wer sie waren, warum sie dort waren, was wir alle dort zu tun hatten. Ich wollte zurück zu Simon, in meine Wohnung, in meine Wirklichkeit. Ich hätte gern meine Eltern angerufen oder Antje-Doreen.
Pia kam, nahm mich bei der Hand und führte mich zu einem Tisch.
» Julius’ besonders enge Freunde«, sagte sie. Den Unterschied zwischen Geschäftsfreunden und anderen Freunden konnte ich nicht erkennen; sie sahen alle aus wie Geschäftsleute. Die Männer in dunklen Anzügen, die Frauen in eleganten schwarzen Kleidern. Sie hatten Champagnerkelche und Teller mit Häppchen vor sich. Goldknöpfe.
» Darf ich euch jemanden vorstellen«, sagte Pia, und alle schauten zu uns. » Das ist Helen, Julius’ Think tank. Die ihm so viele Briefe geschrieben hat.«
» Ah«, machten alle und » oh, wie nett!«, » wie reizend!«
Ein Mann beugte sich auf seinem Stuhl mit dem Oberkörper vor und deutete in der Luft einen Handkuss an. » Oberrath«, sagte er, » Herrmann von Oberrath.« Er lehnte sich wieder zurück, um dann, ganz gelöst und irgendwie, als hätte er Trüffel und Pralinen gleichzeitig im Mund, zu sagen: » Na, dann können Sie ja jetzt Ihre Briefe an mich schreiben!«
Er stieß ein widerliches Wiehern aus, und alle anderen lachten zustimmend. Meine Nackenhaare stellten sich hoch. Kinder, die mit Eins Abitur machen, versagen dann ja später oft im Leben.
» So geht das aber nicht«, sagte ich leise. » Entschuldigen Sie mich, bitte.«
Ich schaffte es, mich umzudrehen und wegzugehen, obwohl ich wie erstarrt war. Ich wäre am liebsten auf der Stelle nach Hause gefahren.
Ein wenig Musik wäre schön, soll der Schriftsteller Jakob Wassermann gesagt haben, kurz vor seinem Tod. Woran hast du gedacht, kurz vor deinem Tod?
Ich warf drei Hand voll Erde auf deinen Sarg.
Ich warf drei Rosen in dein Grab.
7
Töten ist eine Gestalt unseres wandelnden Trauerns,
diesen Satz von Rilke schrieb ich in meinen Kalender, zwei Tage nach der Beerdigung, mit drei fetten Ausrufezeichen neben drei ebenso fetten Fragezeichen. Wenn es doch so wäre! Doch wo gäbe es dieses Trauern?
In einer terroristischen Gruppe oder in einer geheimdienstlichen Organisation oder in der Verbindung von beiden gibt es: Interessen. Selbst wenn man untersuchte, wer für eine solche Vereinigung tätig wird, oder wer zum Berufsmörder wird –
Töten ist eine Gestalt unseres wandelnden Trauerns –
Unseres? Der Deutsche Herbst Ende der Siebzigerjahre war noch als Ausdruck der Wut einer Generation gesehen worden, aber –
Als ich den Satz Rilkes notierte, bot er weder Trost noch Halt.
Eine Woche später steht im Kalender: An diesem Tag wollte ich Julius besuchen. Ich sollte ihm alles erzählen, vom Mauerfall. Ich sollte ihm alle meine Fotos zeigen.
Ich war zu jung, um an den Tod zu denken.
Nach Julius’ Tod wurden in den Nachrufen im Fernsehen Ausschnitte aus dem Interview gezeigt, das Helens Vater für sie aufgezeichnet hatte, einzelne Sätze, Antworten, die er gegeben hatte, zur Lage der Nation, zu seinem Verständnis des Umgangs mit Schuldnerländern, über sich selbst. Aufsehen erregte noch einmal, wie bereits nach der Erstausstrahlung, die Feststellung, dass er in eine Eliteschule der Nationalsozialisten gegangen war. Das Wort » Napola« fiel immer wieder. Viele Persönlichkeiten der Bundesrepublik hatten ebenfalls eine solche Schule besucht, doch zu diesem Zeitpunkt war von kaum jemandem darüber gesprochen worden.
Helen hatte sich lange gescheut, das Interview noch einmal anzuschauen. Erst zwanzig Jahre nach seinem Tod suchte sie nach der Kassette. Sie wollte Julius sehen, seine Stimme hören. Sie achtete mehr auf den Klang seiner Stimme als
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