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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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himmelte Rudi an, der damals Schulsprecher war und politisch engagiert und sehr viel wusste. Leider redete er an diesem Abend Dinge, die ich nicht begreifen konnte. Er redete über Gewalt als legitimes Mittel in unwürdigen Verhältnissen, und ich dachte, du Arsch, sitzt mit deinem fetten Gymnasiastenhintern gemütlich jeden Tag im Haus von deinem Alten und hast nicht mal eine Ahnung davon, was Arbeit heißt oder Unterdrückung oder gesellschaftliche Demütigung. Ich weiß nicht, weshalb er mich so aufbrachte, aber er hatte eine so selbstgerechte Art, große hehre Worte in den Mund zu nehmen und dazwischen schaumiges helles Bier hineinzukippen und sich im Applaus der anderen zu sonnen, dass mir schlecht wurde. Nein, so ging das nicht. Das hatte auch nichts mit Karl Marx zu tun, über dessen Schriften wir in der Bäckerei sprachen, um sie zu verstehen. Das war nur die Auflehnung gegen sein kleinbürgerliches Elternhaus, gegen die Eltern, die sich hochgeschuftet hatten und die ihn und seine Geschwister aufs Gymnasium schickten.
    An diesen Abend musste ich denken, und dann weiß ich noch, wie ich mitten in meinem Zimmer saß und alles ansah, als wäre ich in einem fernen Land mit exotischen Tieren gelandet, die ich zum allerersten Mal sah, oder in einer Knastzelle in Argentinien, und dass Simon mir einen Kaffee brachte und mich mitleidig und ebenso ratlos ansah. Ich saß da und starrte ihn an, ich sprang auf und lief den Flur hin und her, ich ließ das Radio durchlaufen und drehte immer wieder nach einem anderen Sender, um etwas mehr zu erfahren. Es gab inzwischen ein Bekennerschreiben.
    » Du musst irgendetwas tun«, sagte Simon schließlich, » sonst wirst du verrückt!«
    » Du hast recht«, sagte ich. » Aber was?«
    Ich habe damals nichts aufgeschrieben. Monatelang konnte ich nichts schreiben, keine einzige Zeile in mein Tagebuch. Monatelang blieb ich vollkommen stumm.
    Der Eindruck der Zerstörung war übermächtig. Ich habe Gedächtnislücken.
    Der Besuch beim tag. Die Traueranzeige.
    Das Gespräch mit dem Journalisten Jonathan Kepler.
    Ganz dunkel im Gedächtnis, der Anruf der Redakteurin vom tag, die mir sagte, sie habe eine ähnliche Geschichte erlebt. Die mir irgendwie beistehen wollte.
    Von den Freundinnen, die es wussten. Keine Erinnerung daran. Null.
    Später wusste Helen nicht mehr, ob es Simons Idee gewesen war oder ihre; jedenfalls fuhren sie zusammen zum tag. Helen trug einen schwarzen Pullover und Jeans und saß bleich in der Abteilung für Anzeigen. Sie gab eine Todesanzeige für Julius Turnseck auf. Simon wartete unten in der Halle auf sie.
    Wie in Trance diktierte sie die Anzeige in das erstaunte Gesicht des Mannes hinein, der dort routinemäßig die Anzeigen aufnahm und jetzt aus seiner Routine fiel.
    Er sprang auf und schrie über den Gang. » Ist das bekannt, dass mit dem Turnseck was passiert ist? Ist was mit dem Banker?«
    » Anschlag«, schrie jemand zurück, » Attentat« ein anderer.
    » Ist es denn sicher, dass er tot ist?«, fragte der Anzeigenleiter zu Helen gewandt und dann noch einmal auf den Gang hinaus: » Isser tot?«
    Sie presste die Lippen aufeinander und drückte ein Taschentuch davor, als müsste sie sich übergeben. » Ich wäre wohl kaum hier.«
    » Woher wissen Sie das denn? Sind Sie eine Verwandte?«
    Helen schüttelte den Kopf. » Ich weiß es von seiner Familie.«
    Der Mann sah sie unverhohlen neugierig an.
    Helen diktierte ein Zitat von Shakespeare. Sie diktierte das Zitat auf Englisch und dann den Rest der Anzeige. Der Mann schrieb es auf und hörte nicht auf, den Kopf zu schütteln. » Irre«, sagte er, » völlig irre.«
    » Wer wird den Nachruf schreiben?«, fragte Helen.
    » Mensch, Mädel, du bist aber schnell.« Er überlegte. » Na, ich denke mal der Kepler. Von der Wirtschaft, der hat ihn mal interviewt.«
    » Hör mal«, sagte Helen, die wusste, dass alle in der Zeitung sich duzten, » es klingt vielleicht komisch, aber ich will nicht, dass der etwas Böses schreibt. Ich will es nicht.«
    Sie sah dem Mann direkt in die Augen. Er sah sie an, überlegte, schmunzelte, wurde wieder ernst.
    » Am besten gehste mal hoch und redest mit ihm. Wirtschaft, dritter Stock, erster Raum. Frag nach Jonathan Kepler.«
    Später erinnerte sich Jonathan Kepler besser an diese Begegnung als Helen selbst. Der Schock legte sich wie eine Anästhesie auf diese Tage, und egal, wie sehr Helen sich anstrengte, sie blieben bruchstückhaft und auch die Bruchstücke waren eher

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