Der Tag ist hell, ich schreibe dir
aber auch nicht reich, mit einigen Häusern aus der Gründerzeit und einigen Überbleibseln der Zwanzigerjahre, sachliche Wohnhäuser, die die Bomben offenbar nicht getroffen hatten. Essen war fast vollständig zerstört gewesen. Ich stellte mir die Wege vor, auf denen du dich getummelt hattest, auf denen du zur Schule gelaufen warst, und ich fragte mich, wie es für dich gewesen war, als du nach dem langen Fußmarsch von Tirol aus hier gestanden hattest. Ob du direkt hineingelaufen bist oder erst einmal innegehalten hast. Ob du Angst hattest oder einfach nur deine Familie wiedersehen wolltest.
Plötzlich fragte ich mich, ob es Nachfahren von dir gab, entfernte Verwandte vielleicht, und ich lief die Straße noch einmal ab, um die Klingelschilder zu lesen. Bescheuert, dachte ich, was nutzt es? Und doch befiel mich eine Aufregung, als wäre ich Emma Peel oder meine vielgeliebte Mata Hari. Ich hatte von Spionagefilmen gelernt, dass man auf Abwegen und Seitenpfaden oft das findet, was man sucht, und bog um die Ecke. Und tatsächlich: Ich entdeckte einen zweiten Eingang an deinem Haus, zur anderen Straße hin. Und dort fand ich am Klingelschild tatsächlich deinen Familiennamen, gleich zweimal. Ich streckte meine Hand nach dem Klingelknopf aus – und ließ sie wieder sinken. Was hätte ich sagen sollen? Tachchen, ich bin Helen, ich kannte Ihren – ja, was? Und außerdem: Wer sollte zu Hause sein? Es war ein gewöhnlicher Wochen- und Arbeitstag. Ich stand unschlüssig da, dann notierte ich mir den Straßennamen und die Hausnummer. Mein Herz klopfte, unlogisch, wie ich fand. Zurück zu Hause, schrieb ich einen Brief. Ein halbes Jahr später luden deine Verwandten mich ein, und ich fuhr nach Essen. Sie waren nicht bei der Beerdigung gewesen. » Wir waren nicht eingeladen«, sagten sie, und: » Als wir Kinder waren, und er kam in der Limousine, um seine Mutter zu besuchen, hingen wir am Fenster und haben die Hälse gereckt.« Die Kanarienvögel lärmten, und sie erzählten mir von deiner Mutter, und später am Abend hörte ich » wollwoll«. Die Mutter deiner Mutter hatte eine Kneipe. Dass ich nicht früher darüber nachgedacht hatte! Sie war beliebt bei den Püttlern, die nach der Arbeit bei ihr vorbeigingen, und sehr patent. Deine Mutter, sagten sie, war als junge Frau charmant und lebensfroh, sie ging gern aus, nur gekocht hat sie wohl nicht besonders gern.
Liebesmuster ähneln nicht selten umgebauten Städten. Man erkennt nicht ohne Weiteres, wie es früher ausgesehen hat. Man muss es erforschen.
Technische Errungenschaften entwickeln sich so schnell wie wir uns daran gewöhnen, sie zu nutzen.Doch etwas in mir erinnert sich genau, wie es war, das Haus nicht verlassen zu wollen, weil ich einen Anruf erwartete. Nach Hause zu rennen, weil ein Anruf kommen könnte.
2
Oft hast du mich auf dem Weg angerufen, auf dem du ermordet worden bist. Früh, um halb acht, manchmal auch um sieben. Die Limousine rollte die Straße entlang aus dem Ort hinaus, in dem du wohntest, durch das Waldstück mit den Tannen, Buchen und vereinzelten Birken. Der Wald, der im Herbst seine Blätter abwarf, wie alle Wälder.
Ah, du bist auch schon auf! Was hast du heute vor?
Die schwarze Limousine mit dem Panzerglas, über das ich mir erst spät anfing Gedanken zu machen. Das Panzerglas, das der Bombe nicht standhielt.
Deine Stimme,
der Brandgeruch –
Ich wünschte, ich wäre in den Zug gesprungen und hingefahren. Ich hätte dich so gern umarmt, ein allerletztes Mal. Deinen Körper, aus dem die Wärme gewichen wäre, bis ich angekommen wäre, aber vielleicht noch nicht dein Geruch, auch wenn er überdeckt –
Deine Stimme
3
Eine Phrase beginnt … im Nirgendwo … hat die Unendlichkeit einen Anfang?
Brahms murmelt in sich hinein. Er lauscht, seine Augenbrauen wie die Verlängerung seiner Ohren, ob sich die Feriengäste endlich verziehen. Er will spazieren gehen, doch er will die Melodie im Kopf behalten, sie nicht zerstreut wissen von jungen Damen, die sich über das schöne Wetter und die jungen Männer unterhalten. Hin und her … hin und her … die Melodie hinaufführen … aber auch wieder hinab … Er will das Lied heute fertig machen, er will es morgen gleich hinübertragen zu den Vogls, die ihn in ihrem Gartenhaus erwarten, an der Kaffeetafel, » haben Sie uns etwas Schönes mitgebracht, lieber Herr Brahms?« Frau Vogl wird sich die Noten nehmen, und er wird zusehen, wie sie es mit den Lippen ausprobiert, wie sie die Töne
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