Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Jahrelang konnte ich Brahms nicht hören. Wenn ich ihn zufällig im Radio erkannte, wechselte ich den Sender. Zu spät. Der schwarze Fleck in meinem Kopf breitete sich aus, die weichen Knie, ich bin nicht da.
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    Mitten in den Gesprächen, die Helen mit verschiedenen Journalisten geführt hatte, befiel sie die Erkenntnis, dass Julius Turnseck für sie eine Rolle spielte. Er war ein Stein in einem Puzzle, er war die Lösung für ein Rätsel, war Vaterfigur, Manager, Machtmensch.
    Natürlich sagte Helens Verstand ihr, dass es sich so und nicht anders verhalten musste; doch eine Erfahrung damit zu machen, war etwas anderes. Mitten im Gespräch sah Helen in braune, grüne und blaue Augen, die sich im Inneren auf ihr Puzzle konzentrierten und nach außen, zu Helen hin, austarierten, welches Steinchen sie hinzufügen könnte. Helen fühlte ein Getrenntsein, sie fühlte den Augenblick der Desillusion, sie fühlte ihn jedes Mal aufs Neue. Danach fiel sie in einen deprimierten Zustand, sie rannte durch die Straßen und klammerte sich an alles, was sie sah, hörte und roch. Im Bereich dieser Erfahrung lag vielleicht Helens größte Nähe zu Julius’ Witwe Pia. In diesem Unterschied zu den anderen Menschen, die sich für Julius Turnseck, den Bankier, interessierten. Plötzlich begriff Helen die alten Herren. Was keine Entschuldigung war. Das Gewusste und das Gefühlte, dachte sie, müssen in einen Zusammenhang gebracht werden.
    Die Bombe war an einem abgestellten Fahrrad befestigt gewesen. Warum konnte die Limousine überhaupt zerstört werden? Wogegen war sie eigentlich gesichert?
    Wir sind unsere eigenen Teufel, wir vertreiben uns selbst aus dem Paradies, hat Goethe irgendwo geschrieben. Am Ende deines Lebens warst du in einer Art Sackgasse gelandet, die dich traurig machte. Das Spielerische deiner Mutter, ihre Leichtigkeit und Lebenslust – hast du sie in deinen letzten Augenblicken gesehen, in ihrem gepunkteten Kleid, wie sie dem Zug nachlief, der dich einmal von ihr fortgetragen hat?
    Helen, hör auf. Lass es ruhen.
    Etwas ruhen lassen. Wir lassen die Versicherung, den Sparbrief, die Geldanlage ruhen: heißt: nichts mehr einzahlen. Infolge eines Liquiditätsmangels. Lass doch die Sache auf sich beruhen. Zahlen, zählen, erzählen –
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    Gabriel stand nicht mehr an seinem Waldgrundstück und beobachtete Pia. Pia, wie sie allein und reglos in ihrer vertrauten Küche saß. Pia, wie sie sich zusammenriss, um für das Kind nicht zu traurig zu sein. Damit für das Kind das Leben weitergehen konnte, damit es nicht in der Trauer der Mutter unterging. Das Kind war selbst traurig genug. Gabriel sah nicht, dass Pia sich anstrengte, eine Bibliothek einzurichten, in der Politik tätig zu werden, mit anderen zu sprechen, ihr Kind in die Selbständigkeit zu entlassen. Er war nicht da, um zu sehen, wie sie älter wurde, wie ihre Gesten sparsamer wurden, die energischen Gesten, die er einst bewundert hatte. Ich war genauso wenig dort wie Gabriel. Warum ist sie in diesem Haus geblieben?
    Der Täter kehrt an den Ort des Verbrechens zurück, sagt man.
    Gabriel. Wo bist du? Bist du untergetaucht? Im Nahen Osten oder im Fernen? Komm, sieh dir die Witwe an. Einundzwanzig, zweiundzwanzig. Komm, bezieh noch einmal Posten, dort am Waldstück unter den Bäumen, die die Blätter abwerfen im Herbst wie alle Bäume. Wirf noch einmal einen Blick in diese Küche. Hat sie einen, den sie liebt? Hat sie jemanden gefunden? Sag du es mir, ich weiß es nicht. Wie lange ist sie hochgeschreckt, weil sie glaubte, die Detonation erneut zu hören, oder eine weitere? Konnte sie ihre Tochter in ein Flugzeug steigen lassen, ohne zu zittern, ob sie zurückkäme? Gefällt sie dir noch? Oder gefiel sie dir nur, weil du das Signal geben konntest, das bestimmen würde über den Verlauf ihres weiteren Lebens? Wo warst du, als sie zur Unfallstelle lief? Wo warst du, all die Tage und Nächte lang, die folgten, die Monate, die Jahre? Wo warst du, Gabriel? Bist du aufgestiegen in der Hierarchie des Tötens? Oder arbeitest du heute als Krankenpfleger?
    Ich weiß es nicht, Gabriel, und ich weiß an vielen Tagen meines Lebens, dass ich es nicht wissen will. Der Hass macht es sich leichter als die Geduld, als die Mühen der Ebene, wie Brecht es genannt hat.
    Helen begreift die Witwe, die sie erfindet. Helen erfindet, um zu begreifen. Helen sieht, wie jung sie selbst war, als ihre ganzen Vorstellungen von der Welt, vom Leben, von ihr selbst, zerschellten. Leute wie Sie werden