Der Tag wird kommen
kannte ihn eigentlich gar nicht, als ich schwanger wurde. Aber ich konnte nicht abtreiben. Ich dachte mir, ich erzähle Einar einfach nichts, und ziehe dich allein groß. Aber dann kam es mir doch nicht richtig vor, ihm gar nichts zu sagen. Er war nicht sauer. Er war überrascht, klar. Er konnte sich kaum noch an mich erinnern. Aber er war sofort begeistert von der Vorstellung, Vater zu werden. Von Abtreibung hat er nie geredet. Er wollte, dass wir zusammenziehen und eine Familie werden. Aber das wollte ich nicht. Wie auch? Ich kannte ihn doch gar nicht. Gerade mal so weit, dass ich wusste, wir würden nie zusammenleben können, ohne uns jeden Tag zu streiten. Ich war ja nicht einmal in ihn verliebt. Das hätte alles nur schlimmer gemacht.«
Sie verstummt und sieht mich forschend an. Will sehen, wie ich es aufnehme. Ist das wahr? Hat Dad gelogen? Wieso sollte er? Ich versuche, so unbeteiligt wie möglich zu bleiben, und Mum spricht weiter.
»Er war so enttäuscht. Und danach wollte er eine Weile nichts mehr mit mir zu tun haben. Aber ein halbes Jahr nach deiner Geburt hat er uns besucht. Er hat dich vom ersten Moment an geliebt, das konnte man sehen. Er hat dich spazieren gefahren, und später, als du größer warst, hat er dich mitgenommen und du hast bei ihm zu Hause übernachtet. Ich ließ ihn das alles auf seine Weise machen. Vielleicht hätten wir einen richtigen Plan aufstellen sollen, geregelte Besuche übers Wochenende und so was. Ich hätte ihn sicherlich mehr einbeziehen können, aber es machte ja den Eindruck, als wärt ihr beide zufrieden, so wie es war.«
Sie schweigt wieder. Will wohl, dass ich etwas sage. Dass ich reagiere. Aber ich kriege nicht auf die Reihe, was mir alles im Kopf herumgeht. Das soll Dad sein?
»Einar hat dich sehr lieb. Ich glaube, für ihn bist du das Beste, was ihm in seinem Leben passiert ist. Du kannst dir vielleicht einreden, dass du ihn nicht brauchst, und möglicherweise stimmt das sogar. Du bist stark, Hans Petter. Ich bin beeindruckt, wie gut du all das wegsteckst, was andere dir antun. Aber Einar braucht dich. Bitte, ruf ihn an.«
Ich antworte nicht. Verdammt, die Frau macht mich fertig. Wieso sagt sie mir das alles, nachdem ich ihren Lover vor der ganzen Klasse zum Horst gemacht habe? Nachdem ich ihn im Lehrerzimmer zum Gespött gemacht habe? Ich tue alles, um ihre Beziehung zu sabotieren, und sie erzählt mir, wie stark und toll ich bin. Super. Jetzt hab ich noch mehr Schiss davor, dass Gunnar sie anruft.
»Denk ein bisschen darüber nach.«
Sie steht auf. Blickt sich im Zimmer um, als wüsste sie nicht mehr genau, wie es hier aussieht. Hebt ein paar Klamotten von mir auf, die auf dem Fußboden liegen, und geht.
Nachdenken. Ein bisschen? Ich finde, ich denke viel zu viel nach. In meinem Kopf dreht sich alles. Am liebsten würde ich ihn abschalten. Wer von beiden sagt denn nun die Wahrheit? Dad kann nicht gelogen haben. Er ist immer, immer brutal ehrlich. Warum sollte er sagen, dass er eine Abtreibung wollte, wenn er nicht brutal ehrlich wäre?
Langsam schleppe ich mich auf das Schultor zu. Groß und grau, wie eine drohende Burg im Morgennebel, ein Gefängnis, das mich zur täglichen Strafe willkommen heißt. Aber heute graut mir nicht nur, ich bin auch ein bisschen gespannt. Etwas ist anders, und ich frage mich, ob es gut anders ist. Ich habe keine Ahnung, wie Andreas sich jetzt mir gegenüber verhalten wird, nach der Sache gestern im Lehrerzimmer. Könnte sein, dass es genauso ist wie an dem Tag im Wald, als wir klein waren. Dass er so tut, als wäre nichts passiert. Oder vielleicht setzt er mir auch besonders hart zu. Damit ich nicht vergesse, wo mein Platz ist.
Ich sollte den Kopf einziehen und nach Zufluchtsorten Ausschau halten, Ecken, in denen ich mich verstecken kann. Aber es hat ja keinen Zweck. Gestern ist nicht vergessen. Um mich herum jeansbekleidete Beine, der Schwarm rottet sich zusammen und murmelt durcheinander. Ich kämpfe gegen die jahrelange Gewohnheit an und gehe mit hoch erhobenem Kopf vorbei, obwohl das Gemurmel anschwillt. Was sagen sie? Ist nicht so wichtig. Kein Andreas zu sehen.
»Stimmt das, dass Gunnar mit deiner Mutter zusammen ist?«
Das kommt von Pia mit der klumpigen Mascara. Sie ist aus der Menge herausgetreten und versperrt mir den Weg. Nicht allein, sie hat natürlich zwei Freundinnen dabei. Ein dreiköpfiger Troll. Sie sehen sich an. Kichern albern. Ich bin verloren. Früher oder später musste es natürlich so kommen, aber
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