Der Talisman (German Edition)
frei.
Um die
Mittagszeit war der
Platz vor dem Gefängnis wie leergefegt. Ein einsamer Bettler kauerte im Schatten an einer Mauer. Mit gesenktem Kopf beobachtete er den Jungen, der eben das Gefängnis verlassen hatte. »Yasha«, dachte Olav Zürban und atmete auf. In seinen Gedanken hatte er sich bereits ausgemalt, wie er und Yasha im ungarischen Halbdunkelwald in der Baumruine leben würden. Der Junge würde ihn lieben und bewundern. Und er, Olav Zürban, würde ihn in die Künste der schwarzen Magie einweihen. Und klug wie Yasha war, würde er der größte Schwarzmagier seiner Zeit werden. Als Olav Zürban den steinernen Schmetterling entdeckte, der noch immer an der alten Stoffkette um Yashas Hals hing, knurrte er böse. Der Schwarzmagier war sich so sicher gewesen, dass der Junge das Gefängnis ohne seinen magischen Glücksbringer verlassen würde. Die stolzen Träume Olav Zürbans zerplatzten wie Seifenblasen. Sein zweifarbiger Blick folgte Yasha, bis der Junge in einer schmalen Seitengasse verschwand …
Verzweifelt setzte Yasha
seine Suche
nach Kapilavastu fort. Doch wo immer er hinkam, schreckten die Menschen vor ihm zurück. Niemand wollte etwas mit ihm zu tun haben. Yasha war furchtbar alleine – auch der Talisman schwieg, seitdem das Schwindibus-Pulver an ihm klebte. Yasha sehnte sich nach seinen Eltern. Wann würde er sie endlich finden? Würden sie ihn so heruntergekommen, wie er war, überhaupt lieben können? Er war ein Bettler. Jeder Straßenköter wurde besser behandelt als er. Yashas Körper war mit Wunden übersäht, die nicht heilen wollten. Er war voller Ungeziefer und ständig ausgehungert.
In Kalkutta wurde es besonders schwer, sich als Bettler durchzuschlagen. Es gibt dort viele Bettler und überall herrscht Armut. Für ein paar Rupien kaufte sich Yasha einen Platz zum Betteln im Viertel der Ärmsten der Armen. Seine Gedanken kreisten nun nicht mehr um die Suche nach seinen Eltern. Er dachte in Brotkanten, kleinen Kupfermünzen und angefaultem Obst. Eben an die Dinge, die ihm mildtätige Menschen manchmal in seine hölzerne Bettelschale warfen – ja, Yasha lebte nur noch fürs Überleben.
Eines Nachts
berührte ihn etwas
am Hals. Zu Tode erschrocken fuhr Yasha hoch. Die Gestalt, die sich über ihn beugte, zog erschrocken die Hand zurück und flüsterte hastig: »Kapilavastu!«
Sofort war Yasha hellwach. Durch die schlechten Erfahrungen als Bettler war er misstrauisch und aggressiv geworden: »Was hast du gesagt? Was willst du von mir?«, fragte er und bemühte sich, seiner Stimme einen drohenden Klang zu verleihen. »Bitte!«, flüsterte der Unbekannte leise und wich ein Stück zurück. Yasha betrachtete ihn im schummrigen Licht genauer. Vor ihm stand ein dünner Junge, etwa in seinem Alter, und bohrte nervös mit seinen nackten Zehen im Straßenstaub. Die Lumpen, mit denen der Betteljunge bekleidet war, sahen nicht besser aus als die Fetzen, die Yasha selber trug. Das einzig Ungewöhnliche an dem Fremden waren seine Augen – sie wirkten so starr. War er blind? Nachdem Yasha sein Gegenüber eingehend gemustert hatte, kam er zum Schluss, dass dieser Junge ihm nichts Böses tun wollte. Aber woher kannte der Junge das Wort Kapilavastu? »Du hast im Schlaf meinen Namen gerufen und mit den Armen um dich geschlagen. Du hattest einen Alptraum. Ich wollte dich nur aufwecken! Warum rufst du jede Nacht meinen Namen?«, fragte der blinde Betteljunge leise.
Und so erzählte Yasha ihm seine Geschichte. Er berichtete von der Suche nach seinen Eltern und was er bisher auf seiner Reise erlebt hatte. Auch, dass die kleine Reinkarnation in Tibet das Wort »Kapilavastu« vor ihm auf den Boden geschrieben hatte und natürlich von dem Mönch mit dem Schwindibus-Pulver. Yasha redete und redete – ja, er erzählte dem fremden Jungen sein ganzes Leben.
Der blinde Junge
hörte zu und unterbrach
Yasha kein einziges Mal. Als er fertig mit seiner Erzählung war, ergriff der Blinde Yashas Hand und sagte: »Mein Name ist Kapilavastu – das bedeutet Teufelsfluch. So nannten mich meine Eltern, als sie merkten, dass ich blind geboren war. Weil sie schon meine vielen Geschwister kaum ernähren konnten, setzten sie mich aus. Ein blindes Kind war ihnen einfach zu viel. Sie waren so schrecklich arm! Das geschah vor vielen Jahren und ich lebe immer noch, denn ich habe nie den Mut verloren. Ich wohne, seit ich denken kann, hier im Viertel der Ärmsten der Armen. Vor kurzem erzählten mir einige Bettler, dass
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