Der Talisman (German Edition)
Rückkehr des verlorenen Sohnes hatte sich in Windeseile in der ganzen Stadt verbreitet. Von nun an mussten Samoshai und Yasha Neugierige und Kranke empfangen und jeder wollte den Talisman berühren. Diese neue Aufgabe gefiel Yasha gut. Er wünschte den Kranken ihre Heilung von ganzem Herzen. Außerdem hoffte er, dass ihm irgend jemand etwas über den Verbleib seiner Eltern erzählen könnte. Ganz allmählich erholte sich der Junge von der schrecklichen Zeit, die er als Bettler auf Indiens Straßen verbracht hatte.
»Onkel Jaïki,
der weise Mann!«,
schallte es aus der Menschenmenge. Fröhlich wurde ein alter Mann mit langen weißen Haaren von der ganzen Familie umringt. Jeder wollte ihn zuerst begrüßen. Es wurde ein schöner Abend, denn Onkel Jaïki war nicht nur sehr weise, er wusste auch viele lustige Geschichten zu erzählen. Yasha und Samoshai mochten ihn auf Anhieb.
Als man sich schließlich für die Nacht verabschiedete, hielt Onkel Jaïki Yasha für einen Moment zurück und sagte: »Yasha, was machst du noch hier? Du musst deine Eltern finden!« Kleinlaut gestand Yasha dem weisen Mann, dass er nicht wüsste, wo er seine Suche fortsetzen solle. Onkel Jaïki strich sich über den langen weißen Bart und dachte einen Moment nach. Dann lächelte er und unterbreitete Yasha einen Vorschlag. Getröstet ging Yasha zu Bett, Onkel Jaïkis Plan war gut und gleich morgen früh wollte er ihn in die Tat umsetzen.
Schon beim Frühstück weihte Yasha seinen Freund Samoshai in den Plan von Onkel Jaïki ein. Die Idee war relativ einfach: Yasha sollte Samoshai ein Haar ausreißen, eines, das zwischen den drei Muttermalen wuchs. Das Haar musste er in einen gefüllten Milchkrug legen und diesen im Garten unter den Bodhi-Baum stellen. Vor Sonnenaufgang würde er dort die Antwort finden. Dann sollte sich Yasha sofort auf die Reise begeben, das hatte Onkel Jaïki ihm eingeschärft.
Samoshai schrie wie am Spieß und strich sich mit seiner Hand über das Muttermal, als Yasha ihm das Haar ausriss. Nun fehlte noch der Krug Milch. Die Jungen gingen auf den Innenhof, um zum Küchentrakt zu gelangen. Dort wartete schon Onkel Jaïki, um sich von ihnen zu verabschieden. Nachdem die drei sich umarmt hatten, stieg Onkel Jaïki, wie von einer sanften Brise erfasst, als kleine, helle Wolke hoch in die Luft. Die Jungen schauten hinterher und winkten, bis die kleine Wolke nicht mehr zu sehen war. Auf dem Boden, wo Onkel Jaïki eben noch saß, stand ein kleiner Krug mit Milch. Die Jungen lächelten sich zu. Beide wussten, was als nächstes zu tun war, und trugen den kleinen Krug sehr vorsichtig, um die Milch nicht zu verschütten, in den Garten.
Als Yasha und Samoshai den riesigen Bodhi-Baum im Garten erreichten, machten sie alles genau so, wie Onkel Jaïki es gesagt hatte. Später erklärte Samoshai, warum Onkel Jaïki den Bodhi-Baum für das Orakel ausgewählt hatte: Der Bodhi-Baum ist ein sehr heiliger Baum. Er wird bis zu 30 Meter hoch und hat Luftwurzeln, die wie gigantische Finger aussehen. Die Buddhisten verehren den Bodhi-Baum, weil man sich erzählt, dass Buddha oft unter diesem Baum meditiert hat.
Am nächsten Morgen,
der Himmel
wurde gerade hellrosa, rannten Yasha und Samoshai zum Bodhi-Baum. Neugierig untersuchten sie den Milchkrug. Er war leer. Eine kleine Wurzel des Baums hatte sich durch den Boden des Kruges gebohrt und fein verzweigt.
Samoshai murmelte: »Die Wurzel des Bodhi-Baums hat die Milch getrunken und der Baum hat gesprochen, schau, Yasha!« Sorgfältig studierten die beiden Freunde die Linien, die die feine Wurzel im Inneren des Kruges gebildet hatte.
»S – u – l – a – i, Sulai!«, buchstabierte Yasha triumphierend. Samoshai wurde blass. Das war ein furchtbares Orakel, denn Sulai liegt im Reich des bösen Sultans von Suzibo. Das Land besteht aus glühendem Wüstensand und die Bewohner Sulais sind die angriffslustigsten Halunken, die man sich vorstellen kann. Viele Reisende nennen Sulai heimlich das Land der »Nimmerwiederkehr«. Oh je! Das waren ganz schlechte Zeichen, unter denen Yashas nächste Reise stand. Samoshai machte sich große Sorgen und versuchte, seinem Freund dieses gefährliche Vorhaben auszureden. »Samoshai! Ich muss dort hin! Wahrscheinlich sind meine Eltern in Sulai. Hab keine Sorge – der Talisman passt auf mich auf!«
Yasha umarmte
seinen Freund zum
Abschied. »Talisman! Ich wünsche, ich wünsche, ich wünsche, nach Sulai zu gelangen!« rief Yasha laut. Ein starker Wind ließ
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