Der Talisman (German Edition)
hier ein neuer Betteljunge aufgetaucht ist, der des Nachts im Schlaf immer ›Kapilavastu‹ ruft. Seitdem habe ich dich gesucht.« Der Talisman hatte plötzlich begonnen, so stark zu leuchten wie noch nie zuvor. Es war das erste Mal, seit das Schwindibus-Pulver an ihm haftete. Da kam Yasha eine Idee. Er nahm den Talisman von seinem Hals und hielt ihn vor das Gesicht des Betteljungen: »Mach, dass er sehen kann, oh Talisman! Ich wünsche, ich wünsche, ich wünsche, dass du ihn heilst!« Und das Unglaubliche geschah: Die starren Augen des Jungen begannen so stark zu tränen, dass Kapilavastu sie schließen musste. Als er sie nach einer Weile wieder öffnete, schrie er: »Ich sehe! Ich sehe! Ich kann sehen! Oh Yasha! Ich kann dich sehen! Ich kann den Talisman sehen! Ein Wunder ist geschehen. Ich bin dir so dankbar!« Im selben Moment sprühte ein Funkenregen von Yasha herab. Erschrocken schlug er auf die kleinen Fünkchen ein. Das Schwindibus-Pulver verbrannte zu Asche. Seine gute Tat hatte den bösen Zauber Olav Zürbans aufgehoben.
Kapilavastu ergriff Yashas knochige Hand und rief enthusiastisch: »Komm! Jetzt gehen wir zu meinen Eltern! Ich weiß, wo sie wohnen. Inzwischen sind sie sehr, sehr wohlhabend und geben den Armen viele Almosen. Jetzt kann ich sehen und bin keine Belastung mehr für sie. Komm schon! Nun wird alles gut!«
Yasha fragte sich befremdet, wieso sein neuer Freund zu seiner Familie wollte, nach allem, was sie ihm angetan hatten. Doch er behielt seine Bedenken für sich. Und so liefen die beiden Jungen durch die engen, verwinkelten Gassen von Kalkutta. Es dauerte den ganzen Tag, bis sie endlich den kleinen Stadtpalast von Kapilavastus Familie erreichten.
Das Tor stand weit offen und die beiden Jungen sahen im kühlen Schatten des Innenhofes viele Bettler sitzen, die an der abendlichen Armenspeisung teilnahmen.
Schüchtern folgte
Yasha seinem
neuen Freund in den schönen Innenhof. Kapilavastu stellte sich selbstbewusst in die Mitte, hob beide Arme hoch in die Luft und rief laut: »Eltern! Geschwister! Familie! Ich bin es, Kapilavastu, euer Sohn! Das Augenlicht ist mir wiedergegeben worden! Ich bin geheilt! Nun bin ich für euch keine Belastung mehr und kann zu euch zurückkehren!«
Alle starrten auf den dünnen, schmutzigen Jungen, der mitten im Hof stand und so unglaubliche Sachen behauptete. Einige Bettler schüttelten bedauernd ihre Köpfe, andere tuschelten aufgeregt miteinander. Hatte dieser kleine Betteljunge zuviel Sonne abbekommen und war verrückt geworden? So etwas kam öfter vor. Oder war er ein raffinierter Betrüger? Der Innenhof schwirrte nur so von Gerüchten und Mutmaßungen, aber dass diese reichen Leute eines ihrer Kinder verstoßen haben sollten, nur weil es blind war, das konnte sich keiner der Bettler vorstellen. Das war nur bei den ganz armen Familien üblich!
Angelockt durch den ungewöhnlichen Lärm erschienen Kapilavastus Eltern im Innenhof. »Ich bin es, euer Sohn!«, wiederholte Kapilavastu leise, als seine Eltern direkt vor ihm standen. Plötzlich lächelte seine Mutter: »Wenn du wirklich unser Sohn bist, dann hättest du drei schwarze Punkte auf deiner Brust!«
Kapilavastu öffnete sein Hemd. Da waren drei schwarze Punkte zu sehen, die ein Dreieck bildeten – Muttermale. Jeder konnte sehen, dass dieser Junge ihr Sohn war. Weinend umarmte sie ihn. Der Vater legte Kapilavastu die Hände auf die Schultern und sprach mit tief bewegter Stimme: »Wir danken dem Himmel, dass er uns unseren Sohn wiedergegeben hat. Wir haben dir großes Unrecht angetan. Bitte verzeih uns! Ab heute sollst du einen neuen Namen tragen. Ab sofort heißt du Samoshai – ›der Zurückgekehrte‹!«
Die Bettler im Hof jubelten. Nach und nach erschien die ganze Familie und alle umarmten den Zurückgekehrten. Yasha hatte sich unauffällig ein wenig abseits inmitten anderer Bettler auf den Boden gesetzt.
Als Samoshai
seine Geschichte
erzählt hatte, schauten alle zu Yasha hinüber. Samoshais ältester Bruder holte ihn von seinem Platz zwischen den Bettlern in den Kreis der Familie und alle umarmten Yasha dankbar. Die Familie verwöhnte die beiden Jungen sehr. Sie wurden in duftenden Kräuterbädern gebadet, geölt und ihre Wunden wurden gepflegt. Sie bekamen kostbare Kleider und die köstlichsten Speisen. Dann fielen die Freunde erschöpft in die weichen Betten.
Am nächsten Morgen hatten sich im Innenhof hunderte von Menschen versammelt, denn die Nachricht von der Wunderheilung und der
Weitere Kostenlose Bücher