Der Talisman (German Edition)
Kirchturm aus die Menschen auf der Straße wie kleine Ameisen aussehen. Der Kirchturm des Ulmer Münsters ist nämlich der höchste der Welt. Er ist 161 Meter hoch! Ganz oben stellten die Arbeiter die schönsten Statuen auf. Diese schönen Steinfiguren kann aber nur der liebe Gott sehen, weil sie so weit oben stehen. Alles in allem dauerte es ganze 513 Jahre, bis das Ulmer Münster vollständig fertig wurde. So, nun müssen wir leider weiter!«, sagte die Donau. »Aber eine Geschichte kann ich euch neugierigen kleinen Wellen noch erzählen, während wir aus der Stadt herausfließen.
Als ich vor 180 Jahren
hier vorbeikam,
sah ich auf dem Kirchturm einen Mann mit riesigen Flügeln stehen. Er war der beste Schneider von Ulm. Jahrelang hatte er in seiner freien Zeit an zwei Flügeln genäht. Er wollte als einer der ersten Menschen fliegen wie ein Vogel. Und er flog, aber nur ein ganz kleines Stück. Dann stürzte er ab und verschwand kopfüber in meinen Fluten …« Den letzten Satz murmelte die Donau sehr leise und Yasha bemerkte erstaunt, dass der Fluss ein bisschen voller geworden war. Denn die Donau weinte in Erinnerung an den tapferen Schneider von Ulm. Eine kleine, vorwitzige Welle, die neben Yasha schwamm, raunte ihm zu: »Die Donau war in den Schneider verliebt. Sie ist immer noch traurig, weil ihn seine Freunde so schnell aus dem Wasser gezogen haben. Die Donau hätte ihn so gerne mitgenommen!« In Gedanken versunken floss Yasha weiter, vorbei an Regensburg und Passau. Dann änderte sich die Sprache der Menschen, die am Ufer wanderten. Die Stimmen klangen ein bisschen wie Musik – sie waren in Österreich angekommen. Die alten, erfahrenen Wellen jubelten. »Warte nur, Yasha, bis du Wien siehst, die Hauptstadt von Österreich!«, gurgelten sie. In der Ferne hörte man Musik, die so schön klang, dass Yasha sich am Ufer an einer Weide festhielt, um andächtig zu lauschen. Die Musik, die ihm so gut gefiel, war ein Walzer und alle Wellen sangen und gurgelten im Chor: »Hier in Wien will ich immer bleiben. Diese Musik ist so herrlich. Kaiserin Sisi, die einst hier lebte, war so wunderschön, die Mädchen in ihren Dirndlkleidern sind so zauberhaft und der Wein ist so süß – oh Wien! Oh Wien! Oh Wien! Du allein!« Die Donau kannte das schon. Es ärgerte sie jedes Mal, dass die Wellen, immer wenn sie Wien erreichten, in einen wahren Begeisterungstaumel gerieten und am liebsten dort bleiben wollten. Darum fließt der Fluss hier auch so langsam. Doch die Donau hat außerordentlich gute Verbindungen zum Wind und zu den Wolken. »Los, Sturm, komm auf!«, schrie die wütende Donau. »Vorwärts, ihr Wellen!« Im Nu verdunkelte sich der Himmel. Ein Blitz zuckte durch die dichten Wolken, gefolgt von einem furchtbaren Donnerschlag.
Der Fluss verwandelte
sich in ein brodelndes
Ungeheuer. Yasha wurde vom Ufer fortgerissen und raste mit all den anderen Wellen in einem Höllentempo davon, weiter, immer weiter … Auf dem Weg rissen die Wellen alles mit sich, was ihnen in den Weg kam, sogar den Uferschlamm. Die schöne blaue Donau war nun hässlich braun geworden. Yasha hatte schwer zu kämpfen, um nicht von den anderen Wellen unterdrückt zu werden. Völlig entkräftet fiel er in Ohnmacht.
Eine ohnmächtige Welle ist schon sehr merkwürdig. Aber Yasha war ja keine normale Welle. Als der Junge zu Bewusstsein kam, lag er unter einer großen Brücke. Vor ihm standen etwa 20 Kinder und starrten mit offenen Mündern auf ihn herab. Er war nun keine Welle mehr. Aber wie sahen nur seine Kleider aus? Schmutzig, zerrissen und obendrein auch noch triefend nass. Benommen stand Yasha auf und strich sich eine tropfende Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wo bin ich?«, fragte er in die Runde. »Du bist in Budapest, das ist die Hauptstadt von Ungarn! Bist du ein Zigeuner?«, erwiderte ein Knirps und zupfte dabei an einem Zipfel seines Pullovers. »Könnte schon sein!«, antwortete Yasha ausweichend. »Ich heiße Yasha Dvorach. Mein Vater ist Weißmagier und ich suche nach ihm und meiner Mutter!« »Dann musst du mit zu unserem Dorf am Pilisgebirge kommen! Heute Abend treffen sich dort Zigeuner aus der ganzen Welt. Komm mit!«, riefen die Kinder und liefen davon.
Neben Yasha war
ein Mädchen
stehen geblieben. Sie war sehr schön angezogen und sah beinahe wie ein bunter Regenbogen aus. Ihre dunklen Haare waren zu einem Zopf zusammengebunden, der ihr fast bis zu den Knien reichte. »Ich heiße Panna. Komm!«, sagte sie fröhlich und griff
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