Der Talisman
dass er sie hatte. Und diese Fremden können sie nicht riechen, stimmt das, Jack?«
»Ja«, flüsterte er. Und wenn er jetzt plötzlich zurückversetzt würde nach New Hampshire, in das Zimmer seiner Mutter im Alhambra – würde er diesen Gestank an ihr riechen?
Ja. Er würde ihn an seiner Mutter riechen, er würde ihren Poren entströmen, der Gestank nach Scheiße und faulenden Trauben, die Schwarze Krankheit.
»Wir nennen es Krebs«, flüsterte Jack. Wir nennen es Krebs, und meine Mutter hat Krebs.
»Ich weiß einfach nicht, ob ich trampen kann«, sagte Wolf. »Ich versuche es wieder, wenn du willst, Jack, aber die Gerüche, drinnen – draußen sind sie schon schlimm genug, Wolf ! Aber drinnen …«
Da war es passiert, dass Jack die Hände vors Gesicht schlug und weinte, teils vor Verzweiflung, teils aus purer Erschöpfung. Und der Ausdruck, den Wolf schon vorher auf Jacks Gesicht gesehen zu haben glaubte, war jetzt wirklich da: einen Augenblick lang war die Versuchung, Wolf zu verlassen, mehr als eine Versuchung – sie war ein aufreizendes Gebot der Vernunft. Seine Chancen, je nach Kalifornien zu gelangen und den Talisman zu finden – was immer das sein mochte –, waren schon vorher gering gewesen; jetzt waren sie so geschrumpft, dass sie kaum noch unter dem Mikroskop zu entdecken waren. Wolf würde ihn nicht nur behindern; Wolf würde dafür sorgen, dass sie beide früher oder später im Gefängnis landeten. Wahrscheinlich früher. Und wie sollte er dem Vernunftmenschen Richard Sloat erklären, was es mit Wolf auf sich hatte?
Was Wolf in diesem Augenblick in Jacks Gesicht sah, war ein Ausdruck kaltblütigen Abwägens, der seine Knie weich werden ließ. Er sank auf sie nieder und streckte Jack die gefalteten Hände entgegen wie ein Liebhaber in einem viktorianischen Melodrama.
»Geh nicht fort, lass mich nicht allein, Jack«, weinte er. »Lass den alten Wolf nicht allein, du hast mich hergebracht, bitte, lass mich nicht allein …«
Das war alles, was an bewussten Worten herauskam; vielleicht versuchte Wolf mehr zu sagen, aber darüber hinaus schien er nur schluchzen zu können. Jack spürte, wie ihn eine gewaltige Schwäche überfiel. Sie passte gut, wie eine lange getragene Jacke. Lass mich nicht allein, du hast mich hergebracht …
So war es. Er war für ihn verantwortlich, oder? Ja. Ja, ganz offensichtlich. Er hatte Wolf bei der Hand genommen und ihn aus der Region nach Ohio gezerrt, und seine pochende Schulter bewies es. Natürlich hatte er keine andere Wahl gehabt; Wolf war dem Ertrinken nahe gewesen, und selbst wenn er nicht ertrunken wäre, hätte Morgan ihn mit dieser merkwürdigen Blitzschleuder geröstet. Er hätte Wolf wieder anfahren können, hätte ihn fragen können: Was wäre dir lieber, Wolf, alter Kumpel? Hier sein und verängstigt oder drüben und tot?
Das hätte er gekonnt, ja, und Wolf hätte darauf keine Antwort gewusst, weil er im Denken nicht der Schnellste war. Aber Onkel Tommy hatte öfters ein Sprichwort zitiert, das lautete: Für einen Mann, dessen Leben du rettest, trägst du zeitlebens die Verantwortung.
Ohne Umschweife und ohne jedes Wenn und Aber er war für Wolf verantwortlich.
»Verlass mich nicht, Jack«, weinte Wolf. »Wolf! Wolf! Bitte verlass den guten alten Wolf nicht, ich helfe dir, ich halte nachts Wache, ich kann eine Menge tun, bloß …«
»Lass das Geheul und steh auf«, sagte Jack ruhig. »Ich verlass dich nicht. Aber wir müssen von hier verschwinden – es kann sein, dass uns der Mann einen Polizisten auf den Hals geschickt hat. Machen wir, dass wir fortkommen.«
5
»Hast du dir überlegt, was wir nun tun wollen?« erkundigte sich Wolf schüchtern. Sie hatten schon seit mehr als einer halben Stunde in dem von Gestrüpp überwucherten Straßengraben unmittelbar hinter der Stadtgrenze von Munde gesessen, und als Jack sich zu Wolf umdrehte, stellte Wolf erleichtert fest, dass er lächelte. Es war ein erschöpftes Lächeln, und Wolf missfielen die dunklen, müden Ringe unter Jacks Augen (Jacks Geruch missfiel ihm sogar noch mehr – es war ein Krankheitsgeruch), aber es war ein Lächeln.
»Ich glaube, ich sehe da drüben, was wir als nächstes tun könnten«, sagte Jack. »Es fiel mir vor ein paar Tagen ein, als ich meine neuen Schuhe kaufte.«
Er hob die Füße, und er und Wolf betrachteten die Turnschuhe mit deprimiertem Schweigen. Sie waren abgetragen, zerfetzt und schmutzig. Die linke Sohle verabschiedete sich vom Oberteil. Jack besaß
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