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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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hier herein wie ein Einbrecher, und nun soll ich auch noch Essen für dich stehlen. Phantastisch. Ganz grandios.«
    »Es gibt vieles, worüber wir reden müssen«, sagte Jack.
    »Wenn«, sagte Richard, wobei er sich mit den Händen in den Taschen leicht vorbeugte, »wenn du dich noch heute auf den Heimweg nach New Hampshire machst, oder wenn du mich meinen Dad anrufen lässt, damit er kommt und dich heimbringt, dann versuche ich, ein bisschen Essen für dich zu ergattern.«
    »Ich bin bereit, über alles mit dir zu reden, Richieboy. Über alles und jedes. Auch über meine Rückkehr.«
    Richard nickte. »Wo in aller Welt hast du überhaupt gesteckt?« Seine Augen brannten hinter den dicken Brillengläsern. Dann ein heftiges, überraschendes Blinzeln. »Und wie in aller Welt kannst du verantworten, wie ihr, du und deine Mutter, meinen Vater behandelt? Ach, Scheiße, Jack. Ich finde, du solltest wirklich zurückkehren in dieses Nest in New Hampshire.«
    »Ich kehre dorthin zurück«, sagte Jack. »Das verspreche ich dir. Aber vorher muss ich noch etwas besorgen. Kann ich mich hier irgendwo hinsetzen? Ich bin todmüde.«
    Richard deutete mit einem Nicken auf sein Bett, dann wies er – typisch für ihn – mit der Hand auf den Schreibtischstuhl, der näher stand.
    Auf dem Flur wurden Türen zugeschlagen. Laute Stimmen passierten Richards Tür, viele Schritte tappten vorüber.
    »Hast du etwas über das Sunlight-Heim gelesen?« fragte Jack. »Ich war dort. Zwei meiner Freunde sind im Sunlight-Heim gestorben; der zweite, ob du’s glaubst oder nicht, Richard, war ein Werwolf.«
    Richards Züge wurden hart. »Nun, das ist ein erstaunlicher Zufall, weil nämlich …«
    »Ich war wirklich im Sunlight-Heim, Richard.«
    »Ich habe verstanden«, sagte Richard. »Okay. Ich komme in ungefähr einer halben Stunde mit etwas Essbarem zurück. Dann erzähl ich dir auch, wer nebenan wohnt. Aber das ist doch Seabrook Island-Kram, nicht wahr? Sag die Wahrheit.«
    »Ja, das kann schon sein.« Jack ließ Myles P. Kigers Mantel von seinen Schultern gleiten und auf die Stuhllehne rutschen.
    »Ich bin bald wieder da«, sagte Richard. Auf dem Weg zur Tür winkte er Jack unsicher zu.
    Jack streifte die Schuhe ab und schloss die Augen.
     
    3
     
    Die Unterhaltung, auf die Richard mit »Seabrook Island-Kram« angespielt hatte und an die Jack sich ebenso gut erinnerte wie sein Freund, hatte gegen Ende ihres letzten Aufenthalts auf dieser Insel stattgefunden.
    Solange Phil Sawyer lebte, hatten die beiden Familien fast alljährlich gemeinsam Ferien gemacht. Im Sommer nach seinem Tod hatten Morgan Sloat und Lily Sawyer versucht, die Tradition aufrechtzuerhalten. Sie waren in dem großen alten Hotel auf Seabrook Island in South Carolina abgestiegen, in dem sie einige ihrer glücklichsten Sommer verbracht hatten. Doch das Experiment war missglückt.
    Die Jungen waren gewöhnt, ihre Zeit miteinander zu verbringen. Sie waren auch an Orte wie Seabrook Island gewöhnt. Richard Sloat und Jack Sawyer waren während ihrer ganzen Kindheit von einem Ferienhotel, von einem langen, sonnigen Strand zum andern gestromert – doch jetzt hatte sich das Klima auf unerklärliche Weise geändert. Eine unerwartete Ernsthaftigkeit war in ihr Leben eingedrungen, eine gewisse Verlegenheit.
    Phil Sawyers Tod hatte die Farben der Zukunft verändert. In jenem letzten Sommer auf Seabrook Island kam in Jack das Gefühl auf, dass ihm vielleicht nichts daran lag, auf dem Stuhl hinter dem Schreibtisch seines Vaters zu sitzen – dass er von seinem Leben mehr erwartete. Mehr wovon? Er wusste – und das war eines der wenigen Dinge, die er wirklich wusste –, dass dieses gebieterische »Mehr« mit den Tagträumen zusammenhing. Als er begonnen hatte, das zu begreifen, wurde ihm noch etwas anderes klar: sein Freund Richard war nicht nur außerstande, dieses Verlangen nach »Mehr« zu empfinden, sondern wollte gerade das Gegenteil. Richard wollte weniger. Richard wollte nichts, das er nicht respektieren konnte.
    Jack und Richard waren in den gemächlichen Stunden, aus denen sich in guten Ferienhotels die Zeitspanne zwischen Lunch und Cocktails zusammensetzt, allein losgezogen. Sie waren nicht weit gegangen – nur die Flanke eines mit Kiefern bestandenen Hügels hinauf, der hinter dem Hotel anstieg. Unterhalb von ihnen funkelte das Wasser des riesigen, rechteckigen Swimmingpools, in dem Lily Cavanaugh Sawyer geschmeidig und kraftvoll eine Bahn nach der anderen schwamm. An einem der

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