Der Talisman
dachte Jack schläfrig, morgen werde ich Richard Sloat wieder sehen, und dann glitt er, vom Rhythmus getragen, in schlichte Bewusstlosigkeit.
Durch eine verheerte, rauchende Landschaft hindurch kam Wolf auf ihn zu. Stränge von Stacheldraht, hier und dort zu willkürlichen, phantastischen Gebilden aufgetürmt, trennten sie voneinander. Tiefe Gräben durchzogen das verwüstete Land; einen von ihnen übersprang Wolf mühelos und stürzte dann fast in das Drahtverhau.
- Pass auf, rief Jack.
Wolf fing sich, bevor er in den dreifachen Stacheldraht fiel. Er schwenkte eine große Pfote, um Jack zu zeigen, dass er unverletzt war, dann stieg er vorsichtig über den Draht hinweg.
Jack spürte, wie ein starkes Gefühl des Glücks und der Erleichterung in ihm aufbrandete. Wolf war nicht gestorben. Wolf kehrte zu ihm zurück.
Wolf brachte den Stacheldraht hinter sich und bewegte sich wieder vorwärts. Der Abstand zwischen Jack und Wolf schien sich auf irgendeine geheimnisvolle Weise aufs Doppelte zu vergrößern – grauer Rauch, der über den vielen Gräben hing, entzog die große, zottige Gestalt fast seinem Blick.
- Jason! rief Wolf. – Jason! Jason!
- Ich bin noch da, rief Jack zurück.
- Schaffe es nicht, Jason! Wolf schafft es nicht!
- Versuch’s weiter, brüllte Jack. – Verdammt, gib nicht auf!
Wolf machte vor einem undurchdringlichen Drahtverhau Halt, und durch den Rauch hindurch sah Jack, wie er sich auf alle viere niederließ und auf der Suche nach einem Durchschlupf hin und her trabte. Von einer Seite zur anderen trabte Wolf, legte dabei jedes Mal eine größere Strecke zurück, zeigte von Sekunde zu Sekunde mehr Besorgnis. Endlich erhob sich Wolf wieder, legte die Hände auf den dichten Drahtverhau und schob es so weit auseinander, dass er hindurchrufen konnte. – Wolf kann nicht, Jason, Wolf kann nicht!
- Ich liebe dich, Wolf, rief Jack über die qualmende Ebene.
- JASON! rief Wolf zurück. – SEI VORSICHTIG! Sie sind HINTER DIR HER! Es sind NOCH MEHR von ihnen!
- Mehr wovon? wollte Jack rufen, aber er konnte es nicht. Er wusste es. Dann änderte sich entweder der ganze Charakter des Traumes, oder ein neuer Traum begann. Er befand sich wieder in dem verwüsteten Aufnahmestudio und dem Büro des Sunlight-Heims, und die Gerüche von Pulverdampf und verbranntem Fleisch erfüllten die Luft. Singers verstümmelter Körper lag zusammengekrümmt auf dem Fußboden, Caseys Leichnam stürzte durch die zerschmetterte Glasscheibe. Jack saß auf dem Boden, hielt Wolf in den Armen und wusste wieder, dass Wolf starb. Aber Wolf war nicht Wolf.
Jack hielt Richard Sloats bebenden Körper, und es war Richard, der starb. Hinter den Gläsern seiner schwarzen Plastikbrille flackerten Richards Augen ziellos, schmerzgepeinigt. – Oh nein, oh nein, stöhnte Jack entsetzt. Richards Arm war zerschmettert, und sein Brustkorb war eine Masse aus verwundetem Fleisch und blutgetränktem weißem Hemd. Hier und dort leuchteten gebrochene Knochen weiß wie Zähne.
- Ich will nicht sterben, sagte Richard, und jedes Wort war eine übermenschliche Anstrengung. – Jason, du hättest nicht – du hättest nicht …
- Du darfst nicht auch noch sterben, flehte Jack. – Nicht du auch noch. Richards Oberkörper sank in Jacks Armen zusammen, ein langer, sanfter Laut entfuhr seiner Kehle, und dann fanden seine plötzlich klaren und ruhigen Augen die von Jack. – Jason. Der Klang des Namens, der fast angemessen war, hing leise in der stinkenden Luft. – Du hast mich umgebracht, hauchte Richard; er hatte Mühe, die Worte zu formulieren. Richards Blick verschwamm wieder, und sein Körper schien plötzlich schwer zu werden in Jacks Armen. Es war kein Leben mehr in diesem Körper. Jason DeLoessian fuhr entsetzt auf.
3
- und Jack Sawyer saß aufrecht in dem kalten, fremden Bett in einer Absteige in Decatur, Illinois; im trüben gelben Licht der Straßenlaternen sah er seinen Atem so körperlich im Raum stehen, als käme er aus zwei Mündern. Er konnte einen Aufschrei nur unterdrücken, indem er seine Hände, seine eigenen Hände, so fest zusammenpresste, dass er eine Walnuss hätte knacken können. Eine weitere weiße Atemwolke entströmte seinen Lungen.
Richard.
Wolf, der über diese tote Welt rannte und rief – was? Jason. Das Herz des Jungen tat einen kurzen, entschlossenen Sprung – mit der Energie eines Pferdes, das über einen Zaun setzt.
Neunundzwanzigstes Kapitel
Richard in Thayer
1
Um elf Uhr am
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