Der Talisman
Gelächter. Ein dunkler, scheinbar richtungsloser Wind lässt Rauch um ihn herumwirbeln, und Richard macht kehrt, torkelt den Weg zurück, den er gekommen ist, mit ausgestreckten Händen wie ein Blinder, tastet wie von Sinnen nach den Mänteln, versucht den schwachen, sauren Geruch der Mottenkugeln wieder zu finden …
Und plötzlich schließt sich eine Hand um sein Handgelenk.
Daddy? fragt er, aber als er hinunterblickt, sieht er keine menschliche Hand, sondern ein grünes, mit zuckenden Saugnäpfen bedecktes Ding, ein grünes Ding an einem langen, gummiartigen Arm, der sich in die Dunkelheit erstreckt, und blickt in ein Paar gelbe Schlitzaugen, die ihn unverhüllt hungrig anstarren.
Schreiend reißt er sich los und wirft sich blindlings ins Dunkel – und genau in dem Augenblick, in dem seine tastenden Finger die Sportjacketts und Mäntel seines Vaters wieder finden, in dem er das gesegnete, rationale Geräusch aneinanderklappernder Kleiderbügel wieder hört, fährt ihm diese grüne, mit Saugnäpfen bedeckte Hand langsam übers Genick – und ist verschwunden.
Zitternd, so bleich wie alte Asche in einem kalten Herd, wartet er drei Stunden vor diesem verdammten Schrank, getraut sich nicht, wieder hineinzugehen, hat Angst vor der grünen Hand und den gelben Augen, zweifelt immer weniger daran, dass sein Vater tot sein muss. Und als sein Vater gegen Ende der vierten Stunde in das Zimmer zurückkehrt, nicht aus dem Kleiderschrank, sondern durch die Verbindungstür zwischen Schlafzimmer und oberem Flur – durch die Tür HINTER Richard, als das geschieht, will Richard von Phantasie nichts mehr wissen. Er verleugnet die Phantasie, er weigert sich, etwas mit der Phantasie zu schaffen zu haben, mit ihr umzugehen, Kompromisse mit ihr zu schließen. Er hat ganz einfach genug davon, ein für allemal. Er springt auf, läuft auf seinen Vater zu, den geliebten Morgan Sloat, und klammert sich so fest an ihn, dass ihm die Arme eine Woche lang weh tun. Morgan hebt ihn hoch, lacht und fragt ihn, warum er so blass ist. Richard lächelt und sagt, wahrscheinlich wäre etwas schuld, das er zum Frühstück gegessen hätte, aber jetzt ginge es ihm schon wieder besser, und er küsst seinen Vater auf die Wange und riecht die geliebte Mischung aus Schweiß und Kölnisch Wasser. Und später an diesem Tag nimmt er all seine Geschichtenbücher, die kleinen Golden Books, die Bücher mit den Aufstellfiguren, die Ich-kann-lesen-Bücher, die Dr. Seuss-Bücher, das Grüne Märchenbuch für kleine Leute – und packt sie in einen Karton und bringt den Karton hinunter in den Keller, und er denkt: »Ich hätte nichts dagegen, wenn jetzt ein Erdbeben käme und den Fußboden aufrisse und jedes einzelne dieser Bücher verschlänge. Es wäre sogar eine Erleichterung. Es wäre eine solche Erleichterung, dass ich wahrscheinlich den ganzen Tag und den größten Teil des Wochenendes lachen würde.« Das geschieht nicht, aber Richard empfindet große Erleichterung, als die Bücher in der doppelten Dunkelheit verschwunden sind – der Dunkelheit des Kartons und der Dunkelheit des Kellers. Er wirft nie wieder einen Blick darauf, und ebenso wenig geht er jemals wieder in den Kleiderschrank seines Vaters mit der Falttür, und obwohl er manchmal träumt, es wäre etwas unter seinem Bett oder in seinem Schrank, etwas mit hungrigen gelben Augen, denkt er nie wieder an die grüne, mit Saugnäpfen bedeckte Hand, bis die merkwürdige Zeit über die Thayer School hereinbricht und er in den Armen seines Freundes Jack Sawyer in ungewohnte Tränen ausbricht.
Er hat genug davon, ein für allemal.
4
Jack hatte gehofft, dass Richard, wenn er ihm seine Geschichte erzählte, mehr oder weniger zu seinem normalen, vernünftigen Selbst zurückfinden würde. Im Grunde war es ihm einerlei, ob Richard die Geschichte ganz schluckte oder nicht; wenn er nur seine Fassung so weit wiedergewann, dass er diesen Irrsinn in den Griff bekam, konnte er seinen beachtlichen Verstand dazu verwenden, Jack beim Finden eines Auswegs zu helfen – zumindest einer Möglichkeit, den Campus von Thayer zu verlassen und aus Richards Leben zu verschwinden, bevor Richard völlig durchdrehte.
Aber nichts dergleichen geschah. Als Jack mit ihm zu reden versuchte – ihm erzählte, wie sein eigener Vater in die Garage gegangen und nicht wieder herausgekommen war –, weigerte sich Richard, ihm zuzuhören. Das alte Geheimnis dessen, was damals in dem Schrank passiert war, war ans Licht gekommen
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