Der Talisman
fast so gut wie die Tagträume, und jede skizzierte eine eigene Vorstellung der Region. Aber es war ihm nie gelungen, einen Funken, irgendeine Reaktion hervorzurufen. Ob es nun The Red Pony war, Dragstrip Demon, The Catcher in the Rye oder I Am Legend, die Antwort war immer die gleiche – stirnrunzelnde, interesselose Konzentration, gefolgt von einem stirnrunzelnden, interesselosen Aufsatz, der ihm ein C einbrachte oder, wenn sein Englischlehrer seinen großzügigen Tag hatte, ein B. Es waren die C’s in Englisch, die ein paar Mal daran schuld waren, dass sein Name auf der Liste der Klassenbesten fehlte, wo er gewöhnlich zu finden war.
Als Jack Goldings Roman Der Herr der Fliegen gelesen hatte, war ihm heiß und kalt zugleich gewesen, und er hatte – zugleich begeistert und entsetzt – am ganzen Körper gezittert, hatte sich vor allem gewünscht, was er sich immer wünschte, wenn er eine besonders gute Geschichte gelesen hatte, dass sie nicht zu Ende ginge, dass sie immer weiter und weiter ginge, wie auch das Leben immer weiterging (nur dass das Leben so viel langweiliger und so viel nichts sagender war als Geschichten). Er wusste, dass Richard einen Aufsatz schreiben musste, und so hatte er ihm das eselsohrige Taschenbuch gegeben und geglaubt, das würde es bestimmt schaffen, das würde das Wunder bewirken – Richard musste reagieren auf diese Geschichte von den verlorenen Jungen und ihrem Absinken in die Barbarei. Aber Richard hatte sich durch den Herrn der Fliegen durchgeackert, wie er sich bisher durch alle Romane durchgeackert hatte, und einen weiteren Aufsatz geschrieben, in dem ebensoviel Feuer und Begeisterung lag wie im Autopsiebericht eines verkaterten Pathologen über das Opfer eines Verkehrsunfalls. Was ist eigentlich mit dir los? hatte Jack wütend gefragt. Was in Gottes Namen hast du gegen eine gute Geschichte, Richard? Und Richard hatte ihn fassungslos angestarrt, anscheinend ohne Jacks Zorn zu begreifen. Geschichten, die sich jemand ausgedacht hat, sind nie gut.
Damals war Jack zutiefst betroffen gewesen von Richards völliger Ablehnung der Phantasie, aber jetzt glaubte er sie besser zu verstehen – vielleicht sogar besser, als ihm im Grunde lieb war. Vielleicht war Richard jedes Buch mit einer Geschichte, das er aufschlug, vorgekommen wie eine aufgehende Schranktür; vielleicht erinnerte jeder bunte Schutzumschlag eines Taschenbuchs, der Leute zeigte, die nie so aussahen, als wären sie völlig real, Richard an den Vormittag, seit dem er genug davon hatte, ein für allemal.
3
Richard sieht, wie sein Vater in den Schrank im großen Schlafzimmer hineingeht und die Falttür hinter sich zuzieht. Er ist vielleicht fünf – oder sechs – bestimmt noch keine sieben. Er wartet fünf Minuten, dann zehn, und als sein Vater immer noch nicht wieder aus dem Schrank herausgekommen ist, bekommt er ein bisschen Angst. Er ruft. Er ruft (nach seiner Flöte ruft er, nach seiner Kegelkugel, er ruft nach seinem)
Vater, und als sein Vater nicht antwortet, ruft er mit immer lauterer Stimme und geht rufend immer näher an den Schrank heran, und nachdem schließlich fünfzehn Minuten vergangen sind und sein Vater immer noch nicht herausgekommen ist, zieht Richard die Falttür auf und geht hinein. Er geht in die höhlenartige Dunkelheit hinein.
Und etwas passiert.
Nachdem er sich durch den rauen Tweed und die weiche Baumwolle und hin und wieder auch die glatte Seide der Mäntel und Anzüge und Jacketts seines Vaters hindurchgedrängt hat, tritt an die Stelle des Geruchs nach Stoffen und Mottenkugeln und muffiger dunkler Schrankluft ein anderer Geruch – ein heißer, feuriger Geruch. Richard beginnt vorwärts zu taumeln, schreit nach seinem Vater, glaubt, dort hinten müsse ein Feuer sein und sein Vater könnte darin verbrennen, weil es so riecht wie ein Teuer – und plötzlich spürt er, dass die Dielenbretter unter seinen Füßen verschwunden sind, und dass er auf schwarzer Erde steht. Widerliche schwarze Insekten mit Büscheln von Augen an den Enden langer Stiele hüpfen um seine Flauschpantoffeln herum. Daddy! kreischt er. Die Mäntel und Anzüge sind verschwunden, die Dielen sind verschwunden, aber unter seinen Füßen ist kein frischer weißer Schnee; es ist stinkende schwarze Erde, offenbar die Brutstätte dieser widerlichen, hüpfenden schwarzen Insekten; dieser Ort sieht ganz und gar nicht aus wie das Märchenland Narnia. Gekreisch antwortet auf Richards Kreischen – Gekreisch und irres
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