Der Talisman
mehr sehen. Ich habe das Problem gelöst. Ich habe genug davon, ein für allemal.
»Sieh dir das an«, sagte er mit ausdrucksloser Stimme. »Ich habe meine Brille zerbrochen. Ich hatte noch eine, aber die ist vor zwei Wochen in der Turnhalle kaputtgegangen. Ohne Brille bin ich fast blind.«
Jack wusste, dass das nicht zutraf, aber er war zu verblüfft, um etwas zu erwidern. Ihm fiel keine angemessene Reaktion auf den radikalen Schritt ein, den Richard eben getan hatte – er hatte zu viel Ähnlichkeit mit dem Versuch, eine letzte Bastion gegen den Wahnsinn zu errichten.
»Außerdem glaube ich, dass mein Fieber wieder schlimmer geworden ist«, sagte Richard. »Hast du noch mehr von diesem Aspirin, Jack?«
Jack öffnete die Schreibtischschublade und reichte Richard wortlos die Flasche. Richard schluckte sechs oder acht Tabletten, dann legte er sich wieder hin.
7
Im Laufe des Abends brach Richard, der mehrmals zugesagt hatte, die Lage mit Jack zu besprechen, immer wieder sein Wort. Er wollte nicht darüber reden, dass sie fortgingen, sagte er, er wollte über nichts von alledem reden, jetzt nicht, sein Fieber war zurückgekehrt und fühlte sich viel, viel schlimmer an, er glaubte, dass es auf vierzigfünf, vielleicht sogar auf einundvierzig Grad gestiegen war. Er müsste unbedingt wieder schlafen.
»Zum Teufel, Richard!« brüllte Jack. »Du versuchst ja nur, dich aus der Affäre zu ziehen! Wenn es etwas gibt, das ich nie von dir erwartet hätte …«
»Red keinen Unsinn«, sagte Richard und ließ sich wieder auf Alberts Bett sinken. »Ich bin krank, Jack. Du kannst nicht erwarten, dass ich über all diese verrückten Dinge rede, wenn ich krank bin.«
»Richard, willst du, dass ich verschwinde und dich hier zurücklasse?«
Richard drehte den Kopf und musterte Jack einen Augenblick träge blinzelnd. »Das tust du nicht«, sagte er, und dann schlief er wieder.
8
Gegen neun Uhr trat auf dem Campus wieder eine dieser mysteriösen Ruhepausen ein, und Richard, der vielleicht spürte, dass seine angegriffene geistige Gesundheit jetzt keiner übermäßigen Belastung ausgesetzt sein würde, erwachte und schwang die Beine aus dem Bett. Braune Flecken waren an den Wänden erschienen, und er starrte darauf, bis er Jack auf sich zukommen sah.
»Mir ist viel besser, Jack«, sagte er hastig, »aber es hat wirklich nicht viel Sinn, darüber zu reden, dass wir fortgehen, es ist dunkel und …«
»Wir müssen noch heute Abend fort«, sagte Jack ingrimmig. »Sie brauchen nur ihre Zeit abzuwarten. An den Wänden wachsen Pilze, und erzähl mir nicht, dass du das nicht siehst.«
Richard lächelte Jack mit einer blinden Nachsicht an, die Jack fast zum Wahnsinn trieb. Er liebte Richard, aber in diesem Augenblick hätte er ihn am liebsten durch die nächste pilzzerfressene Wand gestoßen.
Genau in diesem Augenblick begannen sich lange, fette weiße Würmer in das Zimmer von Albert dem Klops zu ringeln. Sie kamen aus den braunen Pilzflecken an den Wänden, als brächten die Pilze sie auf irgendeine unbekannte Weise hervor. Sie wanden und krümmten sich, halb in den braunen Flecken, halb außerhalb von ihnen, dann fielen sie zu Boden und begannen, blind auf das Bett zuzukriechen.
Jack hatte sich bereits gefragt, ob Richards Sehkraft tatsächlich so viel geringer war, als er in Erinnerung hatte, oder ob sie seit ihrer letzten Begegnung stark nachgelassen hatte. Jetzt stellte er fest, dass er mit seiner ersten Vermutung recht gehabt hatte. Richard konnte recht gut sehen. Jedenfalls hatte er nicht die geringsten Schwierigkeiten, die gallertartigen Dinger zu sehen, die aus den Wänden kamen. Er schrie auf und warf sich gegen Jack. Abscheu verzerrte sein Gesicht.
»Würmer, Jack! Oh, Jesus! Würmer! Würmer!«
»Wir kommen hier heraus – okay, Richard?« sagte Jack. Er hielt Richard mit einer Kraft, von der er nicht wusste, dass er sie besaß. »Wir warten nur auf den Morgen, okay? Kein Problem, okay?«
Jetzt erschienen sie zu Dutzenden, zu Hunderten, plumpe, wachsweiße Geschöpfe wie übergroße Maden. Einige platzten auf, als sie auf den Fußboden fielen. Die übrigen krochen träge auf sie zu.
»Würmer, Jesus, wir müssen hier heraus, wir müssen …«
»Gott sei Dank, endlich nimmt dieser Junge Vernunft an«, sagte Jack.
Er hängte sich seinen Rucksack über den linken Arm und fasste Richards Ellenbogen mit der rechten Hand. Er schob ihn zur Tür. Zertretene weiße Würmer spritzten unter ihren Schuhen
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