Der Tanz der besseren Gesellschaft (German Edition)
in Sekunden einen runter. Die Flecken, die ich dabei auf dem Teppich produzierte, würden mir einen weiteren hochnotpeinlichen Moment bescheren, aber daran verschwendete ich in diesem Augenblick keinen Gedanken, wischte mir nur notdürftig die Hände mit einem Stofftaschentuch sauber, schlitzte endlich den Briefumschlag auf und entnahm ihm Hannas Vermächtnis, zu dem die Nachricht für mich mittlerweile geworden war. Es war ein kleingefaltetes Stück Papier.
Nicht so ganz, was ich mir zusammengesponnen hatte, aber immerhin ... das P.S. leuchtete wie eine Signalrakete, und das "aufgewühlt" hatte eine ungeheuer, nun ja, aufwühlende Wirkung auf mich.
Von neugewonnener Zuversicht emporgehoben griff ich zum Tanz, den ich hinter einer Wand aus anderen Büchern verborgen hatte, und las das dritte Kapitel. Die gewohnte Erregung stellte sich aber überhaupt nicht ein: Weder in Wirklichkeit noch in der Geschichte kam ein weibliches Wesen vor, und anders als beim Baron weckte Benny in mir keinerlei homoerotische Neigungen. Dann andererseits – welche Chance hatte schon ein geschriebener schwuler Jüngling gegen ein reales Kindermädchen mit halb aufgeknöpfter Bluse?
Mir wurde klar: Dieses Buch würde mir entweder Hanna vorlesen oder ich würde es nie lesen. Mit grimmiger Entschlossenheit vergrub ich den Schmöker ganz tief in der untersten Schublade, die ich finden konnte, und versuchte mich auf meine Aufgaben zu konzentrieren. Mit der Zeit ist mir das recht gut gelungen ... und damit meine ich, dass ich Hanna in den nächsten Tagen, Wochen und schließlich Monaten und Jahren nicht mehr zu Gesicht bekam. Irgendwann erfuhr ich, dass ihre Eltern in eine andere Stadt gezogen waren, offenbar bevor sie in ihren Überlegungen zu mir und ihr und Sex und all dem, was auch mich nach wie vor beschäftigte, zu irgendeinem Ergebnis gekommen war. Oder war sie das doch? Ich war mit der Zeit zu einer Art funktionalem Süchtigen in Sachen Hanna geworden; hatte sie einfach mit der Sache abgeschlossen und mich vergessen?
Das Antiquariat
Auf die Antwort auf diese quälende Frage sollte ich nicht weniger als 20 Jahre warten. Ich hatte mir die Liebe zur Literatur bewahrt, Germanistik studiert und war in die Fußstapfen meines Vaters getreten, der ein antiquarische Buchhandlung betrieb, die auch über eine stattliche Sammlung an Erotika verfügte. Den Tag meines Eintritts in seinen Laden nützte ich, um meine mittlerweile längst überquellenden Bücherregale auszusortieren; etliche Schachteln füllten sich und wurden in meinen Kombi gehievt. Bei dieser Gelegenheit fiel mir auch der Tanz wieder in die Hände, und zum ersten Mal seit Jahren dachte ich wieder an Hanna.
Mein Vater half mir beim Einsortieren; als die Reihe an das ominöse Werk kam, stutzte er. Eine Weile betrachtete er sinnierend den prächtigen Hintern der Dame auf dem Umschlag, dann wandte er sich mir zu: "Woher hast du das, Michael?"
Es war mir in diesem Moment noch immer peinlich, aber schließlich erzählte ich ihm die ganze Geschichte. Er war nicht wirklich überrascht; die kleine Lücke in seiner privaten Erotika-Sammlung war ihm recht bald aufgefallen, und er hatte sich aus dem angedeuteten Grund für Hannas überstürzte Kündigung und dem Verschwinden des Buches das meiste zusammengereimt.
"Was ist denn aus Hanna geworden?", fragte er mich, und ich wusste ihm nichts zu sagen. Dann meinte er: "Weißt was, stellen wir den Band ins Regal, aber markieren wir ihn als unverkäuflich. Er soll ein Memento für dich und Hanna sein."
Wieder zogen einige Jahre ins Land, an meinem 30. Geburtstag übergab mir mein Vater die Geschäfte und erklärte sich zum Privatier. Zwei weitere Jahre später öffnete sich eines Nachmittags während eines Wolkenbruchs der Kategorie Sintflut die Ladentür mit einiger Heftigkeit und jemand stürzte herein. "Bitte, kann ich mich bei Ihnen unterstellen?", erklang eine Frauenstimme in der halbdunklen Verkaufsbibliothek. "Da draußen geht gerade die Welt unter."
"Da hätten Sie keinen besseren Laden finden können, gnädige Frau", ließ ich mich aus dem Hintergrund vernehmen. "Wir haben eine hübsche, trockene Leseecke, an Lesestoff herrscht kein Mangel. Möchten Sie einen Tee? Ich war gerade im Begriff, mir einen aufzubrühen."
"Oh, herzlichen Dank, wirklich sehr liebenswürdig. Mit einem heißen Tee wären Sie mein Lebensretter, mir klappern die Zähne. Aber das Angebot mit der Leseecke werde ich wohl ausschlagen müssen; ich bin nass bis auf
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