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Der taubenblaue Drache / eBook (German Edition)

Der taubenblaue Drache / eBook (German Edition)

Titel: Der taubenblaue Drache / eBook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Vonnegut
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Fortschritt darstellen, aber es ist interessant, daß es mit primitivem TNT und Thermit gelang, in einer einzigen
blutigen Nacht mehr Menschen auszurotten, als während der gesamten Blitzkrieg-Luftangriffe auf London starben. Die Festung Dresden feuerte ein Dutzend Schüsse auf unsere Flieger ab.
Sobald sie wieder auf ihren Stützpunkten waren und heißen Kaffee schlürften, haben sie wahrscheinlich bemerkt: »Ungewöhnlich wenig Flak heute nacht. Na, dann wollen wir
uns mal in die Falle hauen.« In Gefangenschaft geratene britische Piloten aus taktischen Fliegereinheiten (die Frontsoldaten Feuerschutz gegeben hatten) rügten die Piloten, die schwere
Bomber bei Städtebombardements geflogen hatten, mit Sprüchen wie: »Wie habt ihr bloß den Gestank siedenden Urins und brennender Kinderwagen ausgehalten?«
    Eine vollkommen routinemäßige Meldung: »Gestern nacht flogen unsere Flugzeuge einen Angriff auf Dresden. Alle kehrten sicher zurück.« Nur ein toter Deutscher ist ein
guter Deutscher: über einhunderttausend böse Männer, Frauen und Kinder (die Tauglichen waren an den Fronten) wurden auf ewig von ihren Sünden gegen die Menschheit gereinigt.
Zufällig lernte ich einen Bombenschützen kennen, der am Luftangriff teilgenommen hatte. »Wir haben das sehr ungern gemacht«, sagte er mir.
    Die Nacht, in der sie herüberkamen, verbrachten wir in der unterirdischen Fleischvorratshalle eines Schlachthofs. Wir hatten Glück, denn das war der beste Luftschutzbunker der Stadt.
Riesen pirschten auf der Erde über uns. Zuerst kam das leise Gemurmel ihres Tanzes in den Randgebieten, dann das Gegrummel, als sie näherzockelten, und schließlich das
ohrenzerschmetternde Krachen ihrer Hacken über uns – und dann wieder zurück zu den Randgebieten. Auf und ab fegten sie: saturation bombing heißt die vollständige Zerbombung im militärischen Englisch.
    »Ich habe geschrien und geweint und die Mauern unseres Luftschutzraums mit den Fingern zerkratzt«, sagte mir eine alte Dame. »Ich habe zu Gott gebetet: ›Bitte, bitte,
bitte, lieber Gott, mach, daß sie aufhören‹, aber er hat mich nicht gehört. Nichts konnte sie davon abhalten. Sie kamen immer wieder, Welle auf Welle. Es war unmöglich,
uns zu ergeben; unmöglich, ihnen zu sagen, daß wir es nicht mehr aushielten. Es gab nichts, was irgend jemand tun konnte, als dasitzen und auf den Morgen warten.« Ihre Tochter und
ihr Enkel kamen um.
    Unser kleines Gefängnis brannte vollständig ab. Wir sollten in ein abgelegenes Lager evakuiert werden, in dem südafrikanische Kriegsgefangene untergebracht waren. Unsere Bewacher
waren ein melancholischer Haufe, bejahrte Volkssturm-Männer und kriegsversehrte Veteranen. Die meisten von ihnen wohnten in Dresden und hatten Freunde und Familien irgendwo im Inferno
gelassen. Ein Gefreiter, der nach zwei Jahren Ostfront ein Auge eingebüßt hatte, ermittelte, bevor wir losmarschierten, daß seine Frau, seine zwei Kinder und seine beiden Eltern
umgekommen waren. Er hatte eine Zigarette. Er teilte sie mit mir.
    Unser Marsch zum neuen Quartier führte uns an den Stadtrand. Es war unmöglich zu glauben, daß irgend jemand im Herzen der Stadt überlebt hatte. Normalerweise wäre es
ein kalter Tag gewesen, aber gelegentliche Windstöße aus dem Höllenbrand brachten uns ins Schwitzen. Und normalerweise wäre es ein klarer und sonniger Tag gewesen, aber eine
trübe, hoch aufragende Wolke verwandelte Mittag in Zwielicht. Eine trostlose Prozession verstopfte die Landstraßen, die aus der Stadt führten; Menschen mit geschwärzten
Gesichtern, von Tränenrinnsalen durchzogen, manche trugen Verwundete, manche trugen Tote. Sie versammelten sich auf den Feldern. Niemand sprach. Einige wenige mit Rotkreuz-Armbinden taten
für die Verletzten, was sie konnten.
    Nachdem wir uns bei den Südafrikanern eingewöhnt hatten, genossen wir eine Woche ohne Arbeit. Danach wurden die Kontakte zur Kommandoebene wiederhergestellt, und man befahl uns, sieben
Meilen in das Gebiet zu marschieren, welches am schwersten getroffen worden war. Nichts in dem Bezirk war dem Wüten entgangen. Eine Stadt aus schartigen Gebäudehülsen, aus
zersplitterten Standbildern und zerfetzten Bäumen; jedes Fahrzeug angehalten, knotig und verbrannt, auf dem Pfad der Urgewalt dem Rost oder Verfall preisgegeben. Die einzigen Geräusche,
die nicht von uns ausgingen, waren die Geräusche von herabfallendem Putz samt Echo. Ich kann die Verwüstung nicht angemessen

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