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Der taubenblaue Drache / eBook (German Edition)

Der taubenblaue Drache / eBook (German Edition)

Titel: Der taubenblaue Drache / eBook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Vonnegut
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beschreiben, aber ich kann eine Ahnung davon geben, wie sie
auf uns wirkte, indem ich einen delirierenden britischen Soldaten in einem Notlazarett für Kriegsgefangene zitiere: »Es ist beängstigend, kann ich dir sagen. Da gehe ich eine dieser
verdammten Straßen entlang und spüre tausend Augen am Hinterkopf. Ich höre, wie sie hinter mir flüstern. Ich drehe mich um, will sie sehen, da ist keine verdammte Menschenseele
in Sicht. Man kann sie spüren, und man kann sie hören, aber es ist nie jemand da.« Wir wußten, daß es so war, wie er sagte.
    Für »Bergungs«-Arbeiten wurden wir in kleine Mannschaften aufgeteilt, jede mit einem Bewacher. Unsere schaurige Mission war die Suche nach Leichen. An jenem Tag und an den
vielen Tagen danach gab es reiche Beute. Wir begannen in kleinem Maßstab – hier ein Bein, da ein Arm, und gelegentlich ein Baby –, stießen aber bereits vor Mittag
auf eine ergiebige Ader. Wir durchbohrten eine Kellerwand und entdeckten ein stinkendes Durcheinander von über hundert menschlichen Wesen. Flammen mußten hier hindurchgefegt sein, bevor
das einstürzende Haus die Ausgänge versiegelt hatte, denn das Fleisch der Eingeschlossenen ähnelte der Textur von Backpflaumen. Unser Job, wurde uns erklärt, war, in das
Tohuwabohu zu waten und die Überbleibsel herauszubringen. Von Klapsen und gutturalen Beschimpfungen ermuntert, wateten wir tatsächlich hinein. Waten mußten wir, weil der
Fußboden mit einer widerwärtigen Brühe bedeckt war, die aus Eingeweiden und dem Wasser aus geborstenen Rohren bestand. Eine Anzahl von Opfern, die nicht sofort getötet worden
war, hatte versucht, durch einen engen Notausgang zu entkommen. Auf jeden Fall waren mehrere Leichen dicht in dem Durchgang gestapelt. Ihr Anführer hatte es halbwegs die Stufen hinauf
geschafft, bevor er bis zum Hals in Ziegeln und Mörtel begraben wurde. Er war etwa fünfzehn, glaube ich.
    Nur mit Bedauern besudele ich den Edelmut unserer fliegenden Truppe, aber, Jungs, ihr habt entsetzlich viele Frauen und Kinder umgebracht. Der Luftschutzkeller, den ich beschrieben habe, und
unzählige andere wie er waren voll davon. Wir mußten ihre Leichen exhumieren und zu Massenscheiterhaufen in den Parks tragen –, daher weiß ich das. Die
Scheiterhaufentechnik wurde verworfen, als klar wurde, wie hoch der Blutzoll gewesen war. Es gab nicht genügend Arbeitskräfte, um das einigermaßen dezent zu erledigen, also wurde
stattdessen ein Mann mit Flammenwerfer hinuntergeschickt, und er verbrannte sie an Ort und Stelle. Bei lebendigem Leibe verbrannt, erstickt, zerquetscht –, Männer, Frauen und Kinder
wahllos umgebracht. Bei aller Erhabenheit der Sache, für die wir kämpften, haben wir ein eigenes Bergen-Belsen erschaffen. Die Methode war unpersönlich, aber das Resultat war
gleichermaßen grausam und herzlos. Das ist, fürchte ich, eine widerliche Wahrheit.
    Als wir uns an die Dunkelheit, den Geruch und die Leichen gewöhnt hatten, begannen wir uns zu überlegen, was jeder der Leichname zu seinen Lebzeiten gewesen war: »Reicher Mann,
armer Mann, Bettelmann, Dieb ...« Einige hatten dicke Brieftaschen und Schmuck, andere hatten wertvolle Nahrungsmittel. Ein Junge hatte seinen Hund immer noch an der Leine. Ukrainische
Renegaten in deutscher Uniform waren für unsere Operationen in den Luftschutzkellern zuständig. Sie waren von den umliegenden Weinkellern sternhagelvoll und schienen ihren Job gewaltig zu
genießen. Der Job war einträglich, denn sie nahmen jedem Leichnam die Wertsachen ab, bevor wir ihn auf die Straße trugen. Der Tod wurde so banal, daß wir über unsere
elendiglichen Traglasten scherzen und mit ihnen herumschmeißen konnten, als wären sie irgendein Müll. Bei den ersten, besonders den jungen, war das noch nicht so: wir hatten sie
behutsam auf die Tragliegen gehoben und ordneten sie mit einem gewissen Anschein von Begräbniswürde an ihrer letzten Ruhestätte vor dem Scheiterhaufen an. Aber unsere
ehrfürchtige und trauervolle Pietät machte, wie gesagt, derber Abgebrühtheit Platz. Am Ende eines grausigen Tages rauchten wir und betrachteten den eindrucksvollen Stapel
aufgetürmter Toter. Einer von uns schnippte seine Kippe in den Haufen. »Mannomann«, sagte er, »wenn der Tod mich will, kann er jederzeit kommen.«
    Ein paar Tage nach dem Luftangriff heulten wieder die Sirenen. Diesmal wurden die lust- und trostlosen Überlebenden mit Flugblättern beworfen. Mein Exemplar des Epos habe ich

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