Der taubenblaue Drache / eBook (German Edition)
lange eingesperrt und hungrig gewesen war. Es ist nur leider Quatsch, weil ich nicht dazu gezwungen wurde, das zu tun, was ich tat. Es war nicht so,
daß ich keine andere Wahl hatte. Ich tat es, weil ich es tun wollte.
Peterswald hatte ich mir anders vorgestellt. Ich hatte gehofft, daß es mindestens zwei Läden gäbe, wo wir ein paar Zigaretten und was zu essen kaufen oder stehlen konnten. Das
Dorf bestand aus zwei Dutzend Bauernhöfen, jeder mit einer Mauer und einem drei Meter hohen Tor. Sie waren dicht an dicht auf einem grünen Hügel mit Blick auf die Felder, so
daß sie eine massive Festung bildeten. Für die Panzer und die Artillerie jedoch, die jetzt im Anmarsch waren, war Peterswald ganz leicht umzupusten, und es sah nicht aus, als hätte
irgend jemand Lust, die Russen zu einem Kampf um Peterswald herauszufordern.
Hie und da flatterte eine weiße Fahne – ein Bettlaken an einem Besenstiel – aus einem Fenster im ersten Stock. Jedes Tor stand offen –, bedingungslose
Kapitulation.
»Versuchen wir’s mit diesem«, sagte George. Er packte mich am Arm, lenkte mich aus der Menge heraus, durch das Tor und auf den festgetretenen Hof des ersten Bauernhauses, das
wir erreichten.
Der Hof war auf drei Seiten vom Haus und den Scheunen und Ställen begrenzt, auf der vierten von Mauer und Tor. Ich sah durch die offenen Tore in die leeren Scheunen und durch die Fenster in
das stille Haus. Zum erstenmal fühlte ich mich wie das, was ich in Wirklichkeit war –, ein beunruhigter Fremder. Bis dahin hatte ich mich benommen, als wäre ich ein Sonderfall,
ein Amerikaner, der irgendwie nichts mit diesem europäischen Durcheinander zu tun hatte und vor nichts Angst zu haben brauchte. Diese Geisterstadt änderte meine Einstellung ...
... oder vielleicht fing ich an, Angst vor George zu haben. Hinterher ist man immer schlauer; ich weiß es nicht mit Sicherheit. Vielleicht, tiefinnerst, regten sich erste Zweifel. Seine
Augen waren zu groß und zu interessiert, wenn ich etwas sagte, und er konnte die Hände nicht von mir lassen, er befummelte, betätschelte und bepatschte mich, und immer, wenn er
sagte, was er als nächstes tun wollte, sagte er: »Du und ich, Sammy ...«
»Hallo!« rief er. Er bekam ein rasches Echo von den Mauern ringsum, und dann war Stille. Er hielt mich immer noch am Arm, und er drückte ihn ordentlich. »Ist das nicht
gemütlich, Sammy? Sieht aus, als hätten wir die ganze Bude für uns allein.« Er schob das große Tor zu und legte den dicken Riegelbalken vor. Ich glaube nicht, daß
ich dem Tor damals auch nur einen Stups hätte versetzen können, aber George hantierte damit, ohne auch nur den Gesichtsausdruck zu wechseln. Er kam wieder zu mir, staubte sich die
Hände ab und grinste.
»Was bezweckst du, George?«
»Die Beute geht an den Sieger –, stimmt’s?« Er trat die Haustür auf. »Tritt ein, Kleiner. Bedien dich. Georgie hat alles so gedeichselt, daß niemand
uns belästigen wird, bevor wir die freie Auswahl hatten. Such dir was richtig Schönes für deine Mutter und deine Freundin aus, ja?«
»Ich will nur was zu rauchen«, sagte ich. »Meinetwegen kannst du das blöde Tor gern wieder aufmachen.«
George holte eine Schachtel Zigaretten aus seiner Feldjacke. »So ein Kumpel bin ich nämlich«, lachte er. »Nimm eine.«
»Weshalb mußte ich wegen einer Zigarette den ganzen Weg nach Peterswald latschen, wenn du eine ganze Packung hattest?«
Er ging ins Haus. »Ich mag deine Gesellschaft, Sammy. Du solltest dich geschmeichelt fühlen. Rothaarige müssen zusammenhalten.«
»Hauen wir hier ab, George.«
»Das Tor ist zu. Brauchst vor nichts Angst zu haben, Sammy, genau, wie du gesagt hast. Sei doch mal ein bißchen froh. Geh rauf in die Küche und besorg dir was zu essen. Das ist
das einzige, was du brauchst. Das wirst du dir doch nie verzeihen, wenn du so eine Gelegenheit sausen läßt.« Er kehrte mir den Rücken, zog Schubladen heraus, leerte sie auf
eine Tischplatte aus und kramte im Inhalt. Dazu pfiff er eine alte Tanzmelodie, die ich seit den späten dreißiger Jahren nicht mehr gehört hatte.
Ich stand mitten im Zimmer, und die ersten tiefen Züge von der Zigarette verschafften mir einen schwindligen, verträumten Auftrieb. Ich schloß die Augen, und als ich sie wieder
öffnete, beunruhigte George mich nicht mehr. Es gab nichts Beängstigendes mehr; das wachsende Albtraumgefühl war weg. Ich entspannte mich.
»Wer hier gewohnt hat, ist eilig abgehauen«,
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