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Der taubenblaue Drache / eBook (German Edition)

Der taubenblaue Drache / eBook (German Edition)

Titel: Der taubenblaue Drache / eBook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Vonnegut
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sein, lief Gefahr, so zu vereinsamen
wie er. Wir latschten alle ziellos herum, und George und ich trafen rein zufällig – dachte ich damals – beim Tor aufeinander.
    Die Deutschen hatten ihn zum Oberamerikaner in unserem Kriegsgefangenenlager ernannt. Sie sagten, es wäre, weil er Deutsch könne. Auf jeden Fall machte er das Beste draus. Er war viel
dicker als wir anderen –; deshalb dachte er wahrscheinlich an Frauen. Niemand hatte seit etwa einem Monat nach unserer Gefangennahme dieses Thema erwähnt. Alle außer George
hatten seit acht Monaten von Kartoffeln gelebt, und deshalb war, wie ich bereits sagte, das Thema Frauen etwa so beliebt wie die Themen Orchideenzucht oder Zitherspiel.
    Wenn damals Betty Grable aufgetaucht wäre und gesagt hätte, sie sei ganz die meine, hätte ich ihr gesagt, sie soll mir eine Stulle mit Erdnußbutter und Marmelade schmieren.
Nur daß an jenem Tag nicht Betty auf dem Weg zu George und mir war, sondern die russische Armee. Wir zwei standen auf dem Seitenstreifen der Straße vor dem Tor zum Lager und lauschten
den Panzern, die im Tal jaulten, bevor sie sich an die Steigung machten, die dorthin führte, wo wir waren.
    Die großen Kanonen in nördlicher Richtung, die eine Woche lang unsere Fensterscheiben hatten erklirren lassen, waren jetzt still, und unsere Bewacher waren über Nacht
verschwunden. Vorher hatte der einzige Verkehr auf der Straße aus ein paar Bauernfuhrwerken bestanden.
    Jetzt war sie von drängelnden, schreienden Menschen verstopft; sie schubsten, stolperten, fluchten und versuchten, über die Hügel nach Prag zu kommen, bevor die Russen sie
einholten.
    Eine solche Furcht kann sich auch auf Menschen ausbreiten, die gar nichts zu befürchten haben. Nicht alle, die vor den Russen wegrannten, waren Deutsche. Ich erinnere mich an einen
britischen Obergefreiten, den George und ich gen Prag stratzen sahen, als wäre der Teufel hinter ihm her.
    »Macht euch lieber auf die Socken, Yanks!« keuchte er. »Die Russkis sind nur noch ein paar Meilen entfernt. Wollt euch doch wohl nicht mit denen anlegen, oder?«
    Ein Gutes hat es, wenn man halb verhungert ist, was, nehme ich an, der Obergefreite nicht war: daß es nämlich schwer ist, sich über irgendwas Sorgen zu machen, was nicht damit zu
tun hat, daß man halb verhungert ist. »Du hast da was mißverstanden, Mac«, rief ich zurück. »Wir sind, soweit ich weiß, auf ihrer Seite.«
    »Die fragen nicht, woher du bist, Yank. Die knallen jeden ab, den sie treffen können, aus reiner Liebe zur Sache.« Und schon war er um die Ecke verschwunden.
    Ich lachte, aber als ich mich wieder zu George umdrehte, erlebte ich eine Überraschung. Er kämmte sich mit den dicken Fingern durch den roten Wuschelkopf, und sein fettes Mondgesicht
war weiß, als er die Straße betrachtete, auf der bald die Russen kommen sollten. Das war etwas, was keiner von uns je gesehen hatte: George hatte Schiß.
    Bis dahin hatte er jede Situation unter Kontrolle gehabt, bei uns wie bei den Deutschen. Er hatte eine dicke Haut und konnte sich aus allem rausmogeln oder -schmeicheln.
    Alvin York hätten einige seiner Kampfgeschichten beeindruckt. Wir waren alle aus derselben Division, außer George. Er war ganz allein reingebracht worden und sagte, er sei seit der
Invasion in der Normandie immer ganz vorne dabeigewesen. Wir anderen waren feucht hinter den Ohren, bei einem Durchbruch gefangengenommen worden, bevor wir nur eine Woche im Feuer gestanden hatten.
George war ein echtes Frontschwein und hatte Anspruch auf jede Menge Respekt. Er bekam ihn auch, widerwillig, aber doch –, bis Jerry umkam.
    »Nenn mich noch mal einen Spitzel, und ich zerschmetter’ dir dein häßliches Gesicht«, hörte ich ihn zu einem Typ sagen, dessen Getuschel er zufällig
mitgekriegt hatte. »Du weißt verdammt gut, daß du dasselbe tun würdest, wenn du könntest. Ich verarsche die Aufpasser doch nur. Sie glauben, ich bin auf ihrer Seite, und
behandeln mich ziemlich gut. Euch schade ich damit nicht, also kümmer dich um deinen eigenen Scheiß!«
    Das war ein paar Tage nach dem Ausbruchsversuch, nachdem Jerry Sullivan umgekommen war. Jemand hatte den Bewachern einen Tip gegeben, oder zumindest sah es so aus. Sie warteten draußen vor
dem Zaun, am anderen Ende des Tunnels, als Jerry, der als erster durch war, herausgekrabbelt kam. Sie hätten ihn nicht erschießen müssen, aber sie haben es trotzdem getan.
Vielleicht hatte George es ihnen nicht gesagt –, aber

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